Codename Brooklyn.. Peter Pirker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Peter Pirker
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783702237578
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Arbeit und internationale Solidarität erlernen. Jede Art von Kriegsspielen und militärischem Spielzeug war verpönt, Friedensgelöbnisse und Antikriegskundgebungen gehörten stattdessen zu den Ritualen der Kinderfreunde. Die Verwirklichung dieser Visionen in der Gegenwart beschäftigte Kurt Löwenstein rund um die Uhr, wie Dyno, der selbst bei den Kinderfreunden und der Arbeiterjugend aktiv war, in einer biografischen Skizze über seinen Vater schrieb. »Jeder anständige Mensch ist müde!«, soll er einem Mitarbeiter gesagt haben, der über zu wenig Schlaf klagte.142 Das war das eine, Emanzipation, um das es umfassend zu kämpfen galt.

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      033 Dyno, Mara und Kurt Löwenstein, 1934.

      Das andere, das abzuwehren war, der Hass der Antisemiten, trat Kurt Löwenstein entgegen, seit er sich öffentlich engagierte. Er hatte eine Rabbinerschule für die Ausbildung zum jüdischen Theologen besucht, diese aber abgebrochen, weil ihm Zweifel an seinem religiösen Weltbild gekommen waren, blieb aber seinem Studienfreund Immanuel Lewy zufolge stark beeinflusst von der humanitären und sozialen Ethik des biblisch-rabbinischen Judentums.143 Der ›rote Jude Löwenstein‹ war ein beliebtes Ziel der bürgerlichen und katholischen Presse, und als die Nationalsozialisten im Jänner 1933 an die Macht kamen, zerfiel der staatliche Schutz für die Familie schnell. Am 27. Februar 1933 drangen uniformierte SA-Männer gewaltsam in ihre Wohnung in Neukölln ein und demolierten sie. Kurt Löwenstein konnte sich mit seiner Frau Mara und Dyno im Schlafzimmer verbarrikadieren. Die Angreifer schossen mehrfach durch die geschlossene Tür in den Raum. Als die Polizei erschien, ließen sie ab. Das Leben von Kurt Löwenstein war in Gefahr. Er flüchtete in die Tschechoslowakei, seine Familie folgte ihm einige Wochen später.

      Kurt Löwenstein hatte für den Sommer 1933 eine internationale Kinderrepublik in Ostende in Belgien organisiert, das war die nächste Station der Familie. Alle drei, auch Dyno, arbeiteten dann im Exil in Paris am Aufbau einer sozialdemokratischen Internationale für Kinder- und Erziehungsorganisationen weiter. Dyno konnte an der Sorbonne studieren und schloss mit einem Diplom in Statistik ab, danach arbeitete er im Auftrag einer internationalen Lehrerföderation als Bildungsforscher für den Völkerbund. In dieser Zeit lernte er neben deutschen Sozialisten im Exil führende Funktionäre der Arbeiterbewegung in Frankreich, der Schweiz, Dänemark, Belgien und England kennen. Anfang August 1939 starb Kurt Löwenstein mit 54 Jahren an einem Herzinfarkt. Wenige Wochen später, mit Kriegsbeginn, wurde Dyno wie die meisten Deutschen in Frankreich zunächst interniert und trat dann als Arbeitssoldat der französischen Armee bei. Nach der deutschen Invasion flüchtete er nach Südfrankreich, wo er in Montauban mit seiner Mutter Unterschlupf fand – der sozialistische Bürgermeister der Stadt bot tausenden durch Südfrankreich irrenden Flüchtlingen zumindest ein Dach über dem Kopf.

      Da er über sehr gute Kontakte verfügte, fließend Französisch sprach und es verstand, sich unter restriktiven Bedingungen im Land zu bewegen, konnte Dyno 1940 dem amerikanischen Journalisten Varian Fry bei dessen Arbeit für die Fluchthilfeorganisation ›Emergency Rescue Committee‹ (ERC) wertvolle Hilfe leisten. Das ERC hatte Fry nach Frankreich geschickt, um die Flucht prominenter Politiker und Künstler in die USA zu organisieren, nachdem die französische Regierung im Waffenstillstandsabkommen mit Deutschland der Aufhebung des Asylrechts zugestimmt hatte. Damit oblag es der Willkür der französischen Polizei, ob sie Flüchtlinge an die Gestapo auslieferte. Umgekehrt bedeutete es, dass die Fluchthelfer sich zum Teil illegaler Techniken und Methoden bedienen mussten, um bedrohte Personen außer Landes zu bringen. Entlassene Polizisten, Schmuggler, Fälscher, Geldwäscher und Gangster wie Raymond Couraud, später eine wichtige Figur im französischen Widerstand, beherrschten das Nötige, um Leben zu retten. Auch Dyno Loewenstein tat, was er konnte, etwa beim Schleusen von Flüchtlingen über die französisch-spanische Grenze.144

      Viele scheiterten an der Abriegelung der Grenze am Festland und in den Häfen, die bereits von der Gestapo kontrolliert wurden. Nicht nur Juden waren betroffen, auch politische Gegner der Nationalsozialisten. An der Grenze bei Sain-Jean-de-Luz, einer kleinen Stadt am Atlantik, war Ende Juni 1940 Endstation für den 22-jährigen Tiroler Monarchisten Karl Niederwanger. Zwei Jahre zuvor war es ihm gelungen, der Innsbrucker Gestapo zu entkommen. In Paris nahmen ihn Otto Habsburg und der Diplomat Ernst Fuchs, welche die Exilorganisation ›Ligue Autrichienne‹ betrieben, unter ihre Fittiche. Niederwanger übernahm die Sektion für Tirol, Vorarlberg und Salzburg sowie die Jugendgruppe.145 Nach dem deutschen Einmarsch 1940 gelang ihm noch einmal die Flucht aus einem Internierungslager. Den Razzien der deutschen Polizei in der baskischen Hafenstadt entkam er nicht mehr. Konkret ging er der Geheimen Feldpolizei (GFP) 611 in die Fänge, deren Aufgabe die Unterdrückung von Widerstand in den besetzten Ländern war. Dazu gehörten die Verfolgung des politischen Exils und die Jagd auf Saboteure und Spione der Alliierten. Bei einem Verhör in Bordeaux traf er auf einen Landsmann, der ihm väterlich begegnete. Die GFP 611 leitete in Bordeaux nämlich der Südtiroler Otto Begus, der in Innsbruck Jura studiert und bereits eine bewegte Polizei- und Geheimdienstkarriere hinter sich gebracht hatte. Im österreichischen Polizeidienst arbeitete er zunächst offiziell für die demokratische Republik, zugleich verdeckt für die Nationalsozialisten, dann für die Austrofaschisten und die Nationalsozialisten, schließlich in Abessinien für Kaiser Haile Selassie und dann für das NS-Regime in Österreich, Deutschland, Holland und Frankreich; Jugoslawien, Griechenland und Italien sollten noch folgen, bis er im Juli 1945 vom amerikanischen Counter Intelligence Corps (CIC) in Nordtirol verhaftet wurde.146 Er vermittelte Karl Niederwanger den Eindruck, dass er selbst ein Regimegegner sei und ihm das Leben retten könne. Wenn er mit ihm kooperiere, könnte er eine Gerichtsverhandlung wegen Hochverrats und damit die sichere Todesstrafe abwenden. Niederwanger griff nach dem Strohhalm und gab preis, was Begus wissen wollte: Ottos Beziehungen zu französischen und britischen Geheimdiensten, Ottos österreichische Mitarbeiter in Paris, englische Agenten, die er in Paris getroffen hatte. Begus war zufrieden und verwendete Niederwanger als Mitarbeiter zur Aufrollung des legitimistischen Exils in Paris, wo umfangreiche Akten beschlagnahmt worden waren.147

      Als Begus in Jugoslawien für ähnliche Aufgaben gebraucht wurde, schickte er Niederwanger der Gestapostelle in Salzburg, wo er selbst bereits Dienst versehen hatte. Dort setzten die Gestapo und die NS-Justiz Niederwanger zur Vorbereitung von Prozessen gegen die Monarchisten in Tirol und Paris ein. »Ich rettete sein Leben, und im Gegenzug begann er für mich zu arbeiten«, erklärte Otto Begus im Juli 1945 in britischer Kriegsgefangenschaft seinem Zellengenossen Constantin Canaris, einem SS-Standartenführer und leitenden Mitarbeiter des Reichssicherheitshauptamts, sein Verhältnis zu Niederwanger. Begus und Canaris saßen in einem Speziallager in der Cinecittà in Rom, wo ihre vermeintlich vertraulichen Gespräche vom britischen Nachrichtendienst abgehört wurden.148

      Mara und Dyno Loewenstein entgingen einer derart schwierigen Situation, in die Karl Niederwanger geraten war. Sie befanden sich auf einer kurzen, von Gewerkschaften zusammengestellten Liste von Deutschen, für die Präsident Roosevelt ausnahmsweise noch Besuchervisa unterzeichnete, obwohl die Einreisequoten ausgeschöpft waren. Am 25. März 1941 verließen die beiden den Hafen von Marseille auf dem Frachtschiff Capitaine Paul-Lemerle mit Kurs auf die Karibikinsel Martinique. Ein Foto zeigt Dyno Loewenstein an Deck mit anderen deutschen Sozialdemokraten, Emil und Katrin Kirschmann, Peter Grossmann und dem Maler Karl Heidenreich. Im Juni 1941 schließlich, nach mehr als einem Jahr auf der Flucht, erreichten die Loewensteins New York. Dyno Loewenstein fand schnell Beschäftigung als Statistiker, zunächst in einem Gesundheitsamt, dann als Entwickler und Analyst psychologischer Fragebögen.

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      034 Flüchtlingstransport des Emergency Rescue Committee im März 1941 mit dem Frachtschiff Capitaine Paul-Lemerle von Marseille nach Martinique. V. l.: Ernst Rossmann, Karl Heidenreich, Dyno Loewenstein, Katrin und Emil Kirschmann, Peter Grossmann.

      Durch die Arbeit für das ERC und sein politisches und gewerkschaftliches Engagement in Europa lernte Loewenstein schnell Menschen kennen, die ihm den Weg in die amerikanische Gesellschaft, zu den Gewerkschaften und zum OSS ebneten. Die amerikanischen Gewerkschaften halfen den europäischen Genossinnen und Genossen mit speziellen Kursen dabei, in New York Fuß zu fassen.