Sie weiß, es ist die Stimme des Jünglings, den der König Eustachius genannt hat. Seine Worte bleiben wie ein gütiges Verstehen über ihr schweben; sie hört sie immer wieder aufs neue wie einen Trost. Und unter ihm entschlummert sie und schläft, schläft, bis sie plötzlich jäh emporgeschreckt wird von angstvollen Schreien, die durch das Lager gellen, und gleichzeitig im fahlen Morgengrauen Stephan, Eustachius, Alix aufspringen und vor das Zelt hinaustreten sieht.
Pferdediebe haben den weißen Zelter gestohlen! Und dort, wo er angepflöckt war, liegt Raoul auf dem Rücken, mit eingeschlagenem Schädel, in einer Blutlache. Wie Ellenor bei ihm anlangt, sind die treuen Augen für immer geschlossen; und in dem blaßgelben Angesicht ist der Mund zu einem hilflosen Grinsen verzogen, als bäte er noch im Tode um Verzeihung für etwas . . .
»Marceline! Germaine! Suzanne! Valerie!« schreit Ellenor auf, um in ihrem Jammer nicht allein zu sein. Aber nur dumpfes Schweigen und verlegene Bewegungen antworten ihren fragenden Blicken, die sie im Kreise der dichtgescharten Jünglinge und Mädchen umhersendet. Da steht unvermutet Stephan neben ihr . . .
»Sie lassen dir sagen, Königin, daß sie mit ihren Knappen nach Hause geritten sind . . . Denkst du immer noch, daß wir hoch zu Roß, als Königspaar, unserm Zuge voranreiten werden?« Und er nickt mit einem trüben Lächeln in ihre entsetzten dunklen Augen hinein, das ihr zeigt, daß er sich über solche Feigheit und Treulosigkeit nicht verwundert.
Ellenor erstarrt . . . War nicht auch sie mit dem heimlichen Vorsatz eingeschlafen, heute dasselbe zu tun? Nun kann sie es nicht mehr; und sie will es auch nicht mehr. In eine Welt, in welcher Pflicht und Freundschaft wie Spinngewebe zerreißen, will sie nicht mehr zurückkehren. Sie will nur noch eines: königlich zu ihrem König halten . . .
Sie sieht aus ihrer erst traumhaft gefühlten Verlassenheit heraus, wie die jungen Kreuzfahrer ein Grab schaufeln; wie Eustachius es weiht, wobei er seinen Blick einmal kurz auf ihr ruhen läßt; und wie die Jünglinge den toten Raoul hineinlegen. Dann wird auf dem frischen Erdhügel ein Kreuz aufgepflanzt, von Stephan und allen Kindern laut ein Gebet gesprochen, und hierauf der Weitermarsch vorbereitet. Durch weißblühende Bäume hindurch glüht das Morgenrot.
»Sitze ich jetzt nicht in Demut als deine Königin neben dir, so wie du es gewünscht hast?« – »Gottes Wille!« erwidert Stephan, ohne daß in seinen Zügen eine besondere Teilnahme sich verriete. Und wie aufhorchend staunt Ellenor vor sich hin, während die Ochsen sich bedächtig ins Geschirr legen und der ganze Zug von Wagen und Kindern ruckweise in Bewegung gerät. Ihr ist, als habe sie sich zum erstenmal an der Härte des Lebens geschnitten.
Der Ruf der zwölf jungen Paladine umjauchzt das neue Herrscherpaar, das sie nun vor allem ihrer Kraft anvertraut wissen, nachdem die fremden Gräfinnen mit ihren Rittern sich so schmählich davongemacht haben. Ellenor sitzt und sinnt und fühlt, wie sie unmerklich, aber unwiderstehlich in das Geleise eines Schicksals hineingedrängt wird, aus welchem sie sich nicht mehr wird herausreißen können: jetzt fängt der Gekreuzigte, vor welchem sie sich in ihrem Mädchengemach, im Kloster und nachher zu Hause, so oft und so brünstig in die Knie warf, langsam an, sie in seine Arme zu ziehen. Zusammen mit Stephan schaut sie, während ihre Schultern sich berühren, schweigend unter dem Reifendach hervor, ihrem von unbekannten Schicksalen verhangenen Weg voraus, der blutig aufgehenden Sonne entgegen.
30. Die Muschel stiftet Unheil
Rast unter hohen Bäumen, die eine kleine Waldwiese einschließen und überschatten. Immer entschiedener sind die Frühlingstage zu Sommertagen geworden und erlauben nicht mehr ein ununterbrochenes Wandern. Die größte Hitze muß jedesmal an einem geeigneten Ort, wie dieser es ist, überwartet werden.
Bruder Augustin hat sich zwischen zwei rauhen Stämmen auf den Rücken hingelegt, mit angezogenen Knien und unter den Kopf geschobenen Händen, und schläft den Schlaf, den seine Jahre nach dem langen Vormittagsmarsch nötig haben. Zuweilen schnarcht er, wie wenn er sich einen Einfall seiner Träume bestätigte, zuschnappend in die Wipfel hinauf: dann aber senkt sich sein von großen weißen Stoppeln besetzter Unterkiefer wieder langsam herab; der zahnlose Mund öffnet sich, wie in einem maßlosen Erstaunen, allmählich aufs neue; und die lange Zipfelnase scheint nur noch den Augenblick abzuwarten, wo im Ablauf der vorüberziehenden Seelenbilder der nächste Schnarcher anzubringen ist. In der Nähe verstreut liegen der Wanderstab, der Hut mit den kleinen weißen Schalen und der geheimnisvolle Reisesack.
Nicht weit von dem ermüdeten Klosterbruder schlummern unter den Bäumen die kleineren Kinder, welche sich ihm angeschlossen haben, ohne doch den Anstrengungen einer langen Fußreise gewachsen zu sein, so daß sie ihm stets einen willkommenen Vorwand für allerlei Pausen und Unterbrechungen bieten. Von den älteren Knaben und Mädchen aber fühlen sich einige schon wieder frisch: sie langweilen sich nicht wenig über diese endlose Mittagsrast, hocken, kriechen und wälzen sich auf der eingewaldeten kleinen Wiese herum und finden Zeit, bald still mit ihren eigenen Wünschen sich zu unterhalten, bald in heimlicher Flüsterrede allerlei Zwiesprache zu pflegen. Und allmählich dreht sich ihre Verschwörung um den guten Augustin, dessen Schnarchen ihnen längst keinen Spaß mehr macht, und um seinen großen Reisesack, über dessen Inhalt sie ihre Mutmaßungen austauschen.
»Warum will er uns eigentlich die schöne Muschel nicht mehr zeigen?« schmollt die schwarzhaarige Antonie. Dann lächeln plötzlich ihre roten Lippen: «Gelt, Peter, dort im Sack – ?«
»Wenn man sie herausholt, so hat man sie!« raunt der magere Peter pfiffig und schleicht auf den Knien vorsichtig näher.
»Ich bin's dann aber nicht gewesen!« verwahrt sich die blonde Cäcilie mit dem Laubfleckennäschen. Gleichwohl kriecht sie ihm mit den andern nach, um zu sehen, ob der Fang glücken wird.
Begreiflich, wenn der gute Bruder die Muschel verborgen hält! Das kleine Mädchen, das so entsetzt aufschrie, als es in ihr das Meer belauschte, ging ihnen noch am gleichen Abend verloren; und sie selber vergaßen lange nicht den furchtbaren Schrecken, der sie bei seinem plötzlichen Schreien befallen hatte. Aber wenn auch nicht das Entsetzen, so möchten sie doch noch einmal das süße Grauen empfinden, das sich ihnen aus dem hallenden Ton der Muschel durchs Ohr in die Seele schlich und ihren heißen Herzen wie auflösende Grabeskühle wohltat . . .
Da ertönt in dem Sack, in welchen Peter eben die Hand hineingeschoben hat, ein klingelnder Ton. Bruder Augustin schnarcht heftig auf, so daß sie alle zurückprallen und sich schon, sein Erwachen gewärtigend, so stellen, als wüßten sie von nichts. Aber bald erkennen sie, daß der schlafende Bruder andauernd mit andern Dingen beschäftigt ist und immer noch regungslos liegen bleibt.
Einzig Paul mit dem dicken Kopf, der von den vieren der hinterste war, ist um keine Spanne zurückgewichen und so auf einmal der vorderste geworden. Er macht mit seiner unbeweglichen Miene ganz den Eindruck, als wolle er ihrer aller Willen ohne ein überflüssiges Wort in Tat umsetzen: und so geschieht es auch. Auf dem Bauch liegend streckt er seinen Hakenstock nach dem Sack aus, erwischt ihn an den Tragriemen und zieht ihn, indem er sich selber bedächtig nach rückwärts schiebt, auf die offene Wiese hinaus, wohin ihm die andern drei wie beutelüsterne junge Tiere nachhüpfen.
Mit einem sachlichen Griff fördert Paul das scharfstechende, rötliche Ungeheuer ans Tageslicht und reicht es Cäcilie hin. »Wie das kühlt!« flüstert das Mädchen, während es sich die glatte Rosalippe der Muschel an die Wange drückt. – »Halt sie doch gleich noch an die Fußsohlen, die dich immer so brennen!« höhnt Peter, verdrossen darüber, daß ihm der Fang nicht glückte und Paul sich bei ihr einschmeicheln darf.
»Zeig sie auch mir einmal!« nimmt Antonie sie ihr etwas unwirsch weg – denn sie hatte erwartet, daß Paul sie zuerst ihr geben würde – und hält sie sich ebenfalls ans Ohr. »Rauscht sie immer noch?« Ja, sie rauscht immer noch . . .