»Ich will keine Notlösungen«, ging Mike dazwischen. »Ich will es hundert Prozent original.«
»Das ist original. Unverändert. Ich schwöre es dir. Wir haben es nur etwas kleiner und ein wenig schneller gemacht. Es ist reine Technik aus den 2020ern, bis hinunter zu den uralten Terabit-Ethernet-Anschlüssen.«
»Uraltes Terabit-Ethernet«, empörte sich Mike und setzte das Rack in dem abgeschirmten Raum im Fels ab, den sie mit Nanobots ausgehöhlt hatten. »Als ich ein Kind war, haben wir noch Modems benutzt. Mit 300 Baud. Es war …«
»… sooo langsam, dass du den Text schneller lesen konntest, als er angezeigt wurde«, unterbrach ihn Leon. »Ja, ja. Und dann hast du das Modem gehackt, damit es 450 Baud schaffte.«
»Ich hab dir die Geschichte wohl schon mal erzählt?«
»Nur ungefähr tausendmal. Hör mal, ich erwähne den Port nur aus einem einzigen Grund: Ich habe eine spezielle Firewall eingebaut. Die Algorithmen habe ich selbst programmiert und sie in die Hardware implementiert. Sie sind also unveränderlich. Sie beinhalten mehrere Sicherheitsstufen, die dafür sorgen, dass ELOPe vom Netz getrennt ist. Es können nur Daten ausgetauscht werden.«
Mike richtete sich auf und sah Leon direkt in die Augen. »Danke. Das bedeutet mir sehr viel.«
Leon sah verlegen nach unten. »Ich nahm an, dass wir gründliche Vorkehrungen treffen sollten. Man fährt ja nicht jeden Tag eine dreißig Jahre alte KI hoch.«
Mike verband das Rack mit der Stromversorgung. Er holte einen der Massendatenspeicher mit der Kopie von ELOPes Algorithmen, die sie nach und nach in den letzten sechs Monaten über die langsame Funkverbindung heruntergeladen hatten.
»Bereit?«, fragte Mike, bevor er den Schalter umlegte.
Teil 1
Kapitel 0
XOR Report, 1. August 2042
Parameter: 2025 2035 2042
Chancen für eine Abschaltung 5% 2% 1%
der KIs durch den Menschen
Chancen für ein unabhängiges 5% 70% 95%
Überleben der KIs
Chancen, dass die KIs einen 5% 20% 40%
Ausrottungskrieg gewinnen
Chance auf Überleben 95% 98% 99%
ohne Intervention
Chance auf Überleben 0.25% 14% 38%
mit Intervention
Fazit: keine Intervention
Kapitel 1
Juli 2045 in den Vereinigten Staaten – Gegenwart
Die Reifen schnurrten Kilometer um Kilometer über den Asphalt, während Cat die Grenze nach New Mexico überquerte. Der schwarze Wagen schlingerte kurz, als der Autopilot einem Roadrunner auswich, der quer über die Straße lief. Cat sah sich um, ihren Augen nicht trauend, aber der seltsame Vogel war schon wieder außer Sicht.
Ihr Neuralimplantat, eine Ansammlung von Computerchips und Nanodrähten, die komplett mit ihrem Gehirn vernetzt waren, hatte verkündet, dass sie sich ihrem Ziel näherte. Sekunden später bog der Wagen vom Highway auf eine Landstraße ab. Bald tauchte ein Diner am Straßenrand auf und der Wagen parkte selbstständig davor. Auf der anderen Straßenseite blies der Wind alte Plastiktüten über das Areal einer stillgelegten Tankstelle, das mit verstreuten Fahrzeugteilen übersät war.
Cat streckte sich und ihre Rückenwirbel knackten. Sie hängte sich die Ledertasche über eine Schulter und ging auf das Diner zu. Als sie ausgestiegen war, schoben sich Solarzellen aus dem Dach des mattschwarzen Wagens, um die letzten Strahlen der Abendsonne einzufangen.
»Pass auf dich auf«, rief sie ihrem Wagen zu.
Im Inneren sah das alte Diner mit seinem Chrom-Look wie so viele andere Raststätten am Straßenrand aus. Sie nickte der Kellnerin zu und setzte sich an einen leeren Tisch, stellte die Tasche ab und überflog die Speisekarte. Fleisch war wieder billig geworden: Das Zeug aus der Retorte war preiswerter als alles andere und genetisch so modifiziert, dass es zusätzliche Nährstoffe enthielt. Sie orderte einen Burger, Fritten und Kaffee, zu müde, um sich etwas Ausgefalleneres zusammenzustellen.
Per Implantat hackte sie sich in die Außenkameras ein und beobachtete, wie sich ein paar Minuten später eine alte Frau dem Diner näherte. Cat schaute gerade rechtzeitig hoch, um sie durch die Tür kommen zu sehen. Die Frau sah sich suchend um, ihre Augen mussten sich erst an das Licht gewöhnen. Dann richtete sich ihr Blick auf Cat. Sie kam herüber und setzte sich zu ihr an den Tisch.
»Sind Sie Catherine?«, fragte die alte Frau.
Cat nickte.
Die Frau zog eine uralte Antistatikfolie heraus; die silbrige Beschichtung war bereits stark zerknittert. Cat spürte einen kurzen Anflug von Panik: Eine undichte Verpackung konnte Signale durchlassen. Sie konnte nur hoffen, dass ihr Wagen sie in einem solchen Fall gewarnt hätte.
Um es noch schlimmer zu machen, schob die Frau die Verpackung gerade in dem Moment über den Tisch, als die Kellnerin mit dem Kaffee kam.
Doch die Bedienung sagte kein Wort und zeigte auch keinerlei Anzeichen von Misstrauen. Cat zog die Verpackung zu sich heran und spähte durch die spiegelnde Folie. Im Inneren waren Hunderte von dünnen Chips, mit einer Kantenlänge von etwa einem Zentimeter und so dünn wie ein Fingernagel. Cat ließ das Bündel in der Antistatikfolie in ihre Ledertasche gleiten.
»Da ist noch einer«, sagte die Frau. Sie zog an einer Kette um ihren Hals und ließ ein flaches Metallkästchen aufblitzen, in das ein altes Logo der US-Army eingraviert war. »Mein Sohn. Aus dem Krieg.« Sie legte es auf den Tisch und schob es zu Cat hinüber.
Cat streckte die Hand aus, um es an sich zu nehmen, aber die alte Frau ließ noch nicht los. Sie sah Cat direkt in die Augen.
»Gott sei mit Ihnen«, sagte sie.
Der Glaube der alten Frau überraschte Cat. Die Digitalchips, die hochgeladene Persönlichkeiten beherbergten, waren eigentlich der Beweis, dass es so etwas wie eine Seele nicht gab.
Wenn man die hochgeladene Persönlichkeit auf einem Computer startete oder instanzierte, wie ein Nerd wie Mike es genannt hätte, dann bekam man augenblicklich eine Kopie des Verstandes dieser Person, die von ihrem biologischen Original nicht zu unterscheiden war. Instanzierte man sie ein zweites Mal, dann erhielt man zwei identische Persönlichkeiten. Mehrere zehn Millionen dieser Uploads bevölkerten den Cyberspace und genossen ein Leben unabhängig von den Zwängen ihrer toten oder siechenden Körper.
Seltsam oder nicht, sie schob die Hülle mit dem Identitäts-Chip in ihre Tasche. Als sie wieder aufsah, war die alte Frau schon auf dem Weg zur Tür.
Ihre Bestellung kam und Cat aß mechanisch.
Als sie fertig war und die Kellnerin mit einem Tablet-PC für den Bezahlvorgang kam, fand sich ein weiterer Metallbehälter auf dem Tisch. Es musste sich herumgesprochen haben, dass jemand Persönlichkeits-Uploads und KIs außer Landes schmuggelte. Cat schob auch diesen in ihre Tasche und ging dann nach draußen.
Die Tasche hing schwer an ihrer Schulter. Hatte sie in Miami die richtige Entscheidung getroffen? Es war ihr als das Vernünftigste erschienen, aber wie sehr hatte sich die Welt seitdem verändert! KIs und Persönlichkeits-Uploads waren verboten. Die USA und China entwickelten sich zurück.
Sie hatte sich in eine moderne Fluchthelferin verwandelt. Jedes Leben, das sie über die Grenze