DIE TURING-ABWEICHUNG. William Hertling. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: William Hertling
Издательство: Bookwire
Серия: Singularity
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958353770
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die dabei ihr Leben verloren hatten oder jetzt im digitalen Limbo festsaßen.

      Sie schob die neuen Verpackungen in die abgeschirmte Sicherheitsbox und stieg in ihren Wagen. Wieder auf der Straße ließ sie ihn fahren, während sie gedankenversunken an die zweitausend Chips dachte, die sie bei sich hatte und die nun in den USA verboten waren. Cats letzte Hoffnung, ihre letzte Chance auf ein neues Leben. Vielleicht konnte sie die Welt nicht in Ordnung bringen, aber sie konnte wenigstens diese Leute retten.

      Cat öffnete die Tür zu ihrem Hotelzimmer und sah zu ihrem abgestellten Wagen zurück. Obwohl sie todmüde war, überprüfte sie das Mesh-Netzwerk auf Anzeichen von Überwachung oder Gefahr. Sie hackte Router, Kameras und Server mit geübter Leichtigkeit. Sie erkannte keine Risiken, obwohl sich das Netz in den letzten zwei Jahren enorm verändert hatte. Manchmal erkannte sie die Protokolle kaum noch wieder und zweifelte an ihrer Fähigkeit, die Smart-Systeme zu kontrollieren. Plötzlich verunsichert spürte sie, wie ihre Brust eng wurde, und sie konzentrierte sich auf das Schild des Hotels. Die Beleuchtung erlosch und sie atmete erleichtert aus. Sie schaltete die Leuchtreklame wieder ein und schlug die Tür hinter sich zu.

      Sie brauchte Schlaf, war ganz benommen und verwirrt vor Erschöpfung. Ihr Wagen würde auf sie aufpassen. Sie hatte nur einmal innerhalb der letzten sieben Tage wirklich gut geschlafen und ihre Nanos schickten ihr schon Warnmeldungen. Ihr Kopf fiel schwer auf das Kissen.

      Cat ging ein ausgetrocknetes Flussbett entlang, vom Wasser rund geschliffene Felsen waren tief im hellbraunen Schlamm versunken, so weit das Auge sehen konnte. Ein paar verkrüppelte Bäume hatten auf einer Anhöhe im Westen überlebt und ein dunkler Fleck am Horizont wurde langsam größer, als sie sich ihm näherte. Der Umriss stellte sich als verrosteter Laster heraus, der halb in dem trockenen Flussbett steckte. Ihr Herz hüpfte bei dem Gedanken an eventuelle Vorräte, obwohl es wahrscheinlicher war, dass man vor langer Zeit alles Nützliche aus dem Wrack herausgeholt hatte. Jetzt war es ein guter Ort für einen Hinterhalt.

      Sie sah sich um, schützte mit der Hand ihre Augen vor der gleißenden Sonne und zwang sich dazu, das Netz zu checken. Die Datenverbindung flackerte, blieb aber stabil, das Kreischen beschädigter Datenpakete bombardierte ihr Neuralimplantat. Sie widerstand dem Angriff jedoch und startete eine Gegenoffensive, konnte jedoch keine nützlichen Informationen extrahieren. Von sich selbst und ihren früheren Fehlern angewidert trennte sie die Verbindung. Wie hatte sie das dem Netz nur antun können?

      Sie zog ihre Waffe. Das Antibot-Gewehr lag schwer in ihren Händen. Sie näherte sich dem Lastwagen, ging bewusst in Kampfhaltung, um ihre Silhouette zu verkleinern und leichtfüßiger zu laufen.

      »Kommt heraus!«, rief sie mit krächzender Stimme. Wann hatte sie das letzte Mal mit jemandem gesprochen? »Ich weiß, dass ihr da seid!«

      Sie wartete und wollte die Waffe schon wieder zurück ins Holster stecken, als ein Schleifen über Stein eine Bewegung andeutete. Sie hob die Waffe wieder und wich zur Seite aus. »Ich habe euch gehört. Ihr könnt genauso gut friedlich herauskommen.«

      »Wir kommen!« Ein metallischer Kopf – die Sonne glänzte auf dem blanken Metallschädel – hob sich über die Rückseite des Lasters hinter dem Radkasten. »Bitte tu uns nichts!«

      Der alte Androide hatte früher vermutlich einmal Kleidung getragen, mochte sogar in einem Laden mit menschlichen Kunden gearbeitet haben, aber jetzt war selbst seine künstliche Haut zerfallen. Die zierliche Einheit erhob sich, eine skelettartige Gestalt aus Servos und Verstrebungen, die ein Bündel in einem Arm hielt. Hinter ihm bewegte sich etwas und ein Junge von etwa zehn Jahren erschien und hielt sich mit verkrampften Fingern am Rahmen des Androiden fest. Aus dem Bündel ertönte ein Weinen und Cat erkannte, dass der Androide ein menschliches Baby trug.

      »Wo ist ihre Familie?«, fragte Cat. Sie steckte die Waffe weg und ging näher heran, hätte den Jungen gerne beruhigt.

      »Ich bin jetzt ihre Familie«, sagte der Bot. Sie traten zurück, blieben auf Distanz. Der Junge schien unschlüssig zu sein, ob er wegrennen sollte, hatte aber zu viel Angst, um den Androiden loszulassen.

      »Ich werde euch nichts tun«, sagte Cat.

      »Ist es dafür nicht ein wenig zu spät?«, fragte der Androide. »Du hast alle Computer auf der Welt zerstört, das Netz gegrillt und jeden Roboter getötet, der damit verbunden war. Aber die Menschen waren von uns und der automatisierten Versorgungskette abhängig. Keine Nahrungsmittel, keine Elektrizität und kein Wasser. Wie, dachtest du, könnten sie das überleben?«

      Der Junge drängte sich enger an den Androiden.

      »Du hast zehn Milliarden denkende Wesen getötet, Catherine Matthews. Weniger als fünf Prozent der Menschheit sind noch am Leben.«

      Cat schreckte hoch, die Augen weit aufgerissen in der Dunkelheit. Ihr Implantat sagte ihr, dass sie ein wenig mehr als vier Stunden geschlafen hatte. Heiß und verschwitzt strampelte sie die Decke weg und setzte sich auf.

      Immer derselbe Traum. Aber sie hatte die Welt nicht zerstört. In Miami hätte sie etwas ändern können, aber sie hatte es nicht getan.

      Sie stützte den Kopf in die Hände. Sie hatte damals 2043 eine Vision gehabt, als der Terrorismus und die Kämpfe begannen. Die Vision hatte sie verängstigt und zur Untätigkeit verdammt, weil sie eine globale Apokalypse hätte auslösen können. Stattdessen hatte sie zugesehen, hatte zugelassen, dass die Hälfte aller KIs auf der Welt abgeschaltet wurde, während die andere Hälfte durch sinnlose Einschränkungen verkrüppelt war. War das wirklich besser? Oder war diese Zukunft immer noch unvermeidlich? Sie schwang die Beine über die Bettkante. Sie musste sich wieder auf den Weg machen. Nach diesem Traum konnte sie sowieso nicht weiterschlafen, nicht, wenn es immer noch ein paar Leben zu retten gab.

      An der Grenze bremste Cats Wagen bis auf Schrittgeschwindigkeit herunter. Der Sperrgürtel, den die amerikanische Regierung errichtet hatte, um das Eindringen in den Luftraum zu verhindern, erstreckte sich bis in die obere Atmosphäre und sorgte bei jedem Grenzübergang für nervöse Anspannung.

      Hunderte von menschlichen Grenzbeamten bemannten den Übergang nach Kanada. Es erschien ihr nach wie vor seltsam, nicht einen einzigen Roboter unter ihnen zu sehen, so wie sie sich früher gefühlt hatte, wenn sie die Schule schwänzte und feststellte, dass sie das einzige Kind im Spielzeugladen war. Sie lehnte sich in ihrem Sitz zurück, fühlte sich müde, steif und schmutzig von den langen Tagen auf der Straße. Sie ließ ihren Verstand leer. Es gab keinen Grund, sich mit den Computern des Grenzschutzes anzulegen. Sie mochten keine eigene Intelligenz mehr haben, aber es war das Risiko nicht wert.

      »Ich übernehme jetzt«, sagte sie wie zu sich selbst und legte die Hände auf das Lenkrad, als sie bei dem Grenzbeamten hielt. Eigentlich machte es keinen Sinn, dass sich die US-Grenzkontrolle mehr Sorgen darüber machte, wer ihr Land verließ, als die Kanadier darüber, wer bei ihnen einreiste. Aber viele Dinge, die die USA dieser Tage machte, ergaben keinen Sinn.

      Die Grenzbeamtin trug einen kompletten Kampfanzug, Panzerweste, Helm und hielt eine Maschinenpistole in ihren Händen. »Haben Sie etwas zu verzollen …«

      Die Beamtin machte eine Pause, wartete, bis die ID auf dem Display ihres Helmes angezeigt wurde. »… Mrs. Johnson?«

      »Nichts«, antwortete Cat und gab mit ihrem Implantat nichts preis außer ihrer falschen Identität.

      »Bitte warten Sie, während wir Ihr Fahrzeug scannen.«

      Die Beamtin trat zurück, als ein solider Metallring aus dem Boden hochklappte und um den ganzen Wagen herumfuhr, bevor er wieder im Boden verschwand. Der aktive Scan war vermutlich hundertmal empfindlicher als die passiven KI-Scanner, die man sonst überall fand.

      »Vielen Dank, Mrs. Johnson. Sie haben die Freigabe, zur kanadischen Grenzkontrolle weiterzufahren.«

      Cat fuhr sanft an und rollte hinüber zum zweiten Kontrollpunkt, der einen knappen Kilometer entfernt war. Der kanadische Grenzbeamte war in Zivil. Er scannte kurz Cats ID, während er mit einem Kollegen scherzte. »Willkommen daheim in Kanada, Mrs. Johnson.«

      Und damit war sie zurück in einem zivilisierten Land.

      Sie