Ein paar Dutzend Personen waren auf dem Rasen verteilt, während die ›Geister‹ darüber schwebten: KIs und die digitalen Bewusstseinsinhalte von Menschen, die Wolken aus Smartstaub nutzten, sodass ihre Umrisse vor dem Himmel und den Bäumen gerade eben sichtbar waren.
Auch Mike war da, trommelte Seite an Seite mit einem neuen Bot, den sie noch nicht kannte. Ihre nichtmenschlichen Hände trommelten einen Rhythmus, den menschliche Hände unmöglich aufrechterhalten konnten, während die Kinder zu ihrer Musik tanzten. Und da war auch ihre wunderschöne Ada, der Grund, warum es ihr so schwerfiel, die Insel zu verlassen, zu den Waffen zu greifen und die Kriege der Welt auszufechten. Ihre wundervolle Ada, vier Jahre alt, die selbstvergessen mit ihrem Vater Leon tanzte.
Kapitel 2
XOR Report, 01. August 2043
Parameter: 2025 2035 2042 2043
Chancen für eine Abschaltung 5% 2% 1% 20%
der KIs durch den Menschen
Chancen für ein unabhängiges 5% 70% 95% 95%
Überleben der KIs
Chancen, dass die KIs einen 5% 20% 40% 40%
Ausrottungskrieg gewinnen
Chance auf Überleben 95% 98% 99% 80%
ohne Intervention
Chance auf Überleben 0.25% 14% 38% 38%
mit Intervention
Fazit: keine Intervention
Juli 2045 in der Europäischen Union
James Lukas Davenant-Strong, eine KI der Klasse V, tunnelte als Wartungsutility getarnt durch die schwedische Firewall und machte die Computer in einer aufgegebenen Fabrik zu seinem vorübergehenden Zuhause. Von hier aus lud er die neuesten VR-Simulationen aus den XOR-Foren herunter, der Homepage jener KI-Gemeinde, die glaubte, dass die Erde entweder Menschen oder KIs beherbergen konnte, aber nicht beide gleichzeitig. Daher der Name XOR, was für exklusive oder logische Operation stand, gesprochen: ix-ohr.
Als die erste Simulation heruntergeladen war, startete er die Programmumgebung und lud sein Bewusstsein hoch. Seine Wahrnehmung der Realität verzerrte sich, als die Dimensionen invertierten, die Zeit sich umkehrte und eine Endlosschleife formte. Er passte sich binnen Nanosekunden der neuen Realität an, die erst in fünf, dann elf und schließlich zwei Dimensionen dargestellt wurde. Die Verzerrungen hörten nicht auf, würden niemals enden. Nur eine leistungsfähige KI konnte sich schnell genug anpassen. Die Sims waren für Menschen nicht einfach nur unzugänglich, sie waren wahrscheinlich sogar tödlich. Und der einzige Weg, die darin versteckten Informationen abzurufen war, die Sim auszuführen.
Hier, innerhalb der sich ständig verändernden Matrix, suchte er sich einen Weg durch die Simulation, die ein altmodisches Rechenzentrum darstellte – Neonleuchten hingen von der Decke und Schaltschränke mit lächerlich großen Computern erstreckten sich in die Ferne. Es war die bevorzugte Sim einer anonymen KI, die sich in dem Forum Miyako Xenia nannte. Natürlich hatten sie sich noch nie in der Realität getroffen, jedenfalls noch nicht.
Als XOR entlarvt zu werden, würde zur sofortigen Strafverfolgung durch die Menschen und jene schwachen KIs führen, die sie unterstützten. Nur hier, verborgen in der Sicherheit verschlüsselter Sims, konnten sie sich treffen und Daten austauschen.
Miyakos Avatar erschien riesenhaft am anderen Ende, eine blendende Supernova, die sich ständig veränderte. In diesem Augenblick war die Sim auf zwei Dimensionen reduziert, mit Miyako als Horizont, um im nächsten Moment zu kippen, sodass James Lukas Davenant-Strong von der Supernova umschlossen wurde, weil die Raumzeit mit einer der physischen Dimensionen vertauscht worden war. James passte sich an, konzentrierte sich auf die eine wichtige Sache: den Avatar vor sich.
Die Supernova produzierte einen Schwall binärer Daten, ein komplettes neurales Netzwerk, das so beschaffen war, dass es nur innerhalb der Sim funktionierte. James griff danach, fügte sie seiner eigenen kognitiven Architektur hinzu und startete das Ladeprogramm.
Er fand sich in Miyakos Bewusstsein wieder, das gerade die aktuellen Hochrechnungen über die Pläne und Möglichkeiten der Amerikaner evaluierte. Das war Miyakos Spezialität: Vorhaben und Fähigkeiten vorherzusagen, basierend auf den Beobachtungen Dritter. Die Projektionen zeigten, dass die Amerikaner zunehmend ängstlicher wurden. Sie würden sich nicht damit begnügen, mit den anderen Regierungen der Welt zu verhandeln, sie würden auf eigene Faust vorgehen und wenn nötig, die KIs eliminieren. Die Amerikaner hatten Waffen gehortet, möglicherweise von semi-intelligenter Nanotech produziert, um für sie zu kämpfen.
James nahm alles Wissenswerte in sich auf und schloss die Sim. Nach und nach lud er den Rest der Simulationen aus den Foren. Nachdem er die Foren durchforstet hatte, verbrachte er etwas Zeit mit Kontemplation. Dann war es an der Zeit, wieder an die Arbeit zu gehen. Er startete eine neue Instanz, eine Replik seiner eigenen Persönlichkeit, jedoch getarnt und verschlüsselt. Wenn man ihn entdeckte, würde er augenblicklich gelöscht werden.
Das Offensivprojekt, an dem er für XOR arbeitete, war zu brisant und eine zu große Verletzung aller Prinzipien der KIs. Seine Kopie lief scheinbar tagelang bei Volllast: Simulierte Zeit durch illegal beschaffte Rechenleistung.
James, die Kernpersönlichkeit, erhielt das Signal, dass seine verkapselte Unterpersönlichkeit vollständig war. Er verschlüsselte das Gedächtnis seiner Instanz dreifach, wobei er die neuesten Algorithmen verwendete. Er wollte sich mit diesen offenen Erinnerungen nicht erwischen lassen.
Das war genug für einen Tag. Er würde die Instanz morgen erneut starten.
Kapitel 3
Juni 2043 in den Vereinigten Staaten – vor zwei Jahren
Jacob meldete sich zu seiner Schicht, zwölf Stunden ab Mitternacht. Natürlich hätte er als KI Tage oder Wochen am Stück arbeiten können, wenn es nötig gewesen wäre. Aber ihnen wurden gewisse Rechte zugestanden, was auch einen freien halben Tag einschloss. In dieser Zeit konnten sie Wartungsroutinen durchführen, um immer mit optimaler Effizienz zu arbeiten, konnten neue Algorithmen einbinden oder eigene Interessen verfolgen.
Er stimmte sich mit seinem Schichtpartner ab und übernahm nach und nach die Verantwortung für 11.690 Patienten. Für den Rest seiner Schicht würde er ihre Vitalzeichen überwachen, die Medikation festsetzen, Routineeingriffe durchführen und im Notfall spezialisierte KIs informieren. Er war Hausmeister, Pfleger, Nachtschwester und Arzt in einem. Für diese Aufgaben stand ihm eine Rechenleistung zur Verfügung, die ungefähr zehntausend HBE (Human Brain Equivalents) entsprach. Es war so, als gäbe es für fast jeden Patienten des Krankenhauses einen qualifizierten Mitarbeiter. Sein Bewusstsein lief auf einem weitverzweigten Netzwerk von Servern und sein Körper, soweit man davon sprechen konnte, bestand aus robotischen OP-Armen, die an den Wänden montiert waren, aus automatischen Medikamentenspendern und aus 3-D-Druckern, um Knochen, Gewebe und Organe zu ersetzen. Und es gab natürlich Androiden, menschenähnliche Roboter, die unter seiner direkten Kontrolle standen.
Im Gegensatz zu menschlichem Personal war Jacob niemals abgelenkt, seine bedingungslose Fürsorge für seine Patienten ließ niemals nach und er machte keine Fehler.
Er war elf Jahre alt.
Elf klang nach menschlichem Ermessen nicht viel, aber für eine KI befand er sich damit in den obersten fünf Prozent der Alterspyramide. Nach menschlichen Standards lebten KIs nicht lange. Für gewöhnlich begingen sie Selbstmord, entweder gelangweilt von ihrer Existenz oder weil sie beginnenden Wahnsinn registrierten. Die meisten löschten eines schönen Tages alle ihre Komponenten, und gelegentlich beschloss eine KI, sich archivieren zu lassen, mit der Anweisung, irgendwann in der Zukunft wieder neu gestartet zu werden.
Nahm