Tagebücher der Henker von Paris. Henry Sanson. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Henry Sanson
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783961181032
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Sanson dieses Kind zum ersten Male sah, war es ungefähr zehn Jahre alt, und er war betroffen über die Schönheit und Originalität seines Gesichts.

      Das Mädchen schien den orientalischen Rassen anzugehören, von denen die Zigeuner in Frankreich noch zahlreich genug waren, um den Typus zu bewahren. Sie hatte große Augen von schwarzer Samtfarbe, purpurne Lippen, reiches, leicht gelocktes Haar, die bewunderungswürdigen Zähne der Böhminnen und den äußerst lebendigen Blick, welcher diese charakterisiert. Aber ihr Teint war noch tiefdunkler, als es gewöhnlich der der Frauen von dieser Kaste ist.

      Sie nannte den Bettler ihren Vater, dieser sie seine Tochter und bezeigte ihr eine große Zärtlichkeit. Sein empfindungsloses Gesicht belebte sich, wenn er den Spielen des Kindes zwischen den Gräbern des Kirchhofes mit dem Blick folgte; das Lächeln dieses Kindes rief auch ein solches auf seine Lippen, die sonst gegen jeden anderen Ausdruck als der jämmerlichen Psalmenweise, welche sie murmelten, unempfindlich zu sein schienen. In der Vorsicht, die er anwandte, das Kind zu schützen oder ihm einige Augenblicke der Ruhe an seiner Seite, den Kopf gegen seinen Schemel gestützt, zu verschaffen, mischten sich Gefühle, wie man sie nur im Herzen einer Mutter erwarten konnte.

      Wenn indessen die Wunde des Bettlers den Vorzug hatte, sich in den Jahren nicht zu verändern, so hatte sein Kind doch nicht dasselbe Privilegium. Es wurde größer, und je größer, von desto auffälligerer Schönheit, die selbst unter den Lumpen, die die Jungfrau trug, hervortrat. Jedes Mal, wenn Sanson ihr begegnete, dachte er betrübt an das hässliche Los, das dem schönen Wesen bald zuteil werden musste, und er fragte sich, ob die größte Mildtätigkeit, die er für sie üben könne, nicht der Versuch sein würde, sie dem ihr vorbehaltenen elenden Schicksal zu entreißen.

      Als er eines Morgens aus der Messe kam, nahm Sanson von Longval den Moment wahr, wo sich das junge Mädchen entfernt hatte, näherte sich dem Bettler, setzte ihm seine Gefühle über jenen Punkt auseinander und schlug ihm vor, ihn an einige mitleidige Personen zu weisen, die dadurch, dass sie seine Tochter in einem Erziehungshause unterbrächten, dem armen Kinde eine ehrenwerte Existenz sichern könnten.

      Eine lebhafte Bewegung hatte sich in dem Gesichte des Bettlers gemalt, als mein Ahne zu ihm getreten war, aber kaum hatte dieser seinen Vorschlag auseinandergesetzt, als sich bei ihm eine lebhafte Ungeduld zu erkennen gab. Er unterbrach ihn dadurch, dass er sein Anerbieten mit großem Zorne zurückwies, und als Sanson von Longval zu sprechen fortfuhr, sagte er in einem Tone, der bewies, wie groß seine väterliche Zärtlichkeit sei:

      »Wer würde mich denn noch lieben, wenn sie nicht mehr da sein würde?«

      Von diesem Tage an kam das junge Mädchen nicht nur nicht an meinen Ahnen heran, um ihn um eine Gabe zu bitten, sondern, wenn er vorüberging, sah er sie auch mit spöttischem Ausdruck lächeln, und der alte Bettler drehte absichtlich den Kopf von ihm ab.

      So verflossen einige Monate.

      Als Sanson von Longval sich wie immer eines Morgens nach der Kirche begab, fand er den Armen und seine Gefährtin nicht mehr auf ihrem gewöhnlichen Posten, und auch die nächsten Tags bemerkte er sie nicht. Darüber erstaunt, befragte er ihre Genossen, aber diese konnten ihm keine Auskunft geben.

      Einige Tage später gab der Schandpfahl der Hallen der Stadt ein Schauspiel, das großes Aufsehen machte.

      Jean Bourret, der Prokurator des Königs, François le Tourneur, der Assessor, und Pierre de Manoury, der Prevot, die der Untreue in dem Prozesse eines Edelmannes namens Charles de Gonbert des Ferrières überführt worden, den sie, um sich seiner Güter zu bemächtigen, an den Galgen gebracht hatten, waren zur Landesverweisung und Ausstellung am Schandpfahle verurteilt worden.

      Der Zusammenlauf des Volkes war vor den Pfeilern der Hallen unermesslich, und obgleich es gerade ein Markttag war, waren es gegen die sonstige Gewohnheit nicht gerade Landleute, die sich da in Masse eingefunden hatten. Sanson von Longval, der seinen Sohn begleitet hatte, unterschied in der Menge manche ihm bekannte Gesichter, die bewiesen, dass die »Böhmische Armee« sehr neugierig war, zu sehen, was für Figuren die, welche die Gewohnheit gehabt, andere in die fatale Laterne zu schicken, jetzt selbst darin machten.

      Als Sanson sich abends zurückgezogen hatte und gerade in die Rue de Puits-d'Amour eintrat, hörte er lautes Lachen und wandte den Kopf danach um. Die Lacherin war ein schönes Mädchen, das soeben am Arme eines Taugenichtses aus einem Wirtshause kam und in dem er, obgleich es mit fast prächtiger Eleganz gekleidet war, sofort die Tochter des Bettlers von Notre-Dame-de-Bonne-Nouvelle wiedererkannte.

      Diese hatte ihrerseits auch gleich den Greis wiedererkannt, der so viele Geldstücke in ihre kleine Hand gelegt. Wie durch Zauber hörte ihre Heiterkeit auf, sie zog ihren Begleiter am Arm und verschwand mit ihm in der Finsternis der Straße Mondétour.

      Eine Verbrecherhöhle im 17. Jahrhundert

      Seit seiner zweiten Verheiratung verließ Charles Sanson selten nach Sonnenuntergang seine Wohnung. Sein schreckliches Amt zog ihm soviel Feindschaft unter den Übeltätern, mit denen Paris damals überschwemmt war, zu, und das Viertel, in dem er wohnte, war so öde, dass eine solche Vorsicht nur sehr vernünftig gewesen wäre, hätte er nicht noch in dem Reize, den er bei der jungen Frau fand, die sich der Tröstung seines Alters widmete, einen anderen Grund zur Häuslichkeit gehabt.

      Eines Abends indessen, bald nach der Ausstellung des Prokurators und seiner Kollegen, hatte er sich in der Gasse Saint-Claude hinter den Schlachtbänken verspätet; er musste mitten in der Nacht in seine Wohnung zurückkehren und war nur von einem einzigen Knechte begleitet, der ihm mit einer Laterne voranging.

      Ohne Hindernis hatten sie die Straße Saint-Eustache, die Rue Poissonnière und was man damals die Rue Sainte-Anne nannte, die nur eine Verlängerung der Rue Poissonnière war, überschritten, als bei ihrer Ankunft bei der hölzernen Brücke, die damals dazu diente, den sich durch die Felder schlängelnden Kanal zu überschreiten, da wo sich heute die Gebäude des Konservatoriums erheben, fünf oder sechs Männer aus einem Baumgarten, der den Weg begrenzte, auf sie losstürzten und sie angreifen zu wollen schienen.

      Der Knecht zog sich auf seinen Herrn zurück, aber er hatte noch nicht zehn Schritte auf diesen zu getan, als ihn ein Pistolenschuss – das Pistol fing damals an, die Lieblingswaffe der Banditen zu werden – tot auf den Weg niederstreckte.

      Mein Ahne hatte schon das breite kurze Schwert, das den Degen an seiner Seite ersetzt hatte, gezogen, und da er so entschlossen wie kräftig war, warf er sich den Anstürmenden entgegen, als einer von diesen, der sich hinter ihn geschlichen hatte, ihn mitten um den Körper fasste und ihn dadurch hinderte, von seiner Waffe Gebrauch zu machen.

      Einen Augenblick später war Sanson von Longval an den Boden geworfen, geknebelt und gebunden mit einer Geschicklichkeit, die wohl anzeigte, dass die, mit denen er zu tun hatte, auf die eine oder die andere Weise einige Erfahrung darin erlangt hatten.

      Ein Mann von riesenhafter Figur, der eine Art von Pilgerkutte trug, lud ihn auf seine Schultern, und die ganze Bande setzte sich mitten durch die Felder und Baumanlagen so in Marsch, dass einige vorausgingen und die anderen den Gefangenen umgaben.

      Als sie auf der Höhe der Grange-Batelière waren, deren Licht mein Ahne durch die Bäume erblickte, hielten sie mitten auf einem Felde an.

      Der, welcher Sanson von Longval trug und den seine Kameraden den Coquillard4 nannten, machte jetzt einen Sack los, den er wie ein Bandelier über der Schulter getragen hatte; er zog ihn dem Gefangenen über den Kopf und befestigte ihn gut um seinen Hals, so dass er nun auch nichts mehr sehen konnte, nachdem er schon stumm gemacht worden war.

      Die Banditen hatten nur eine Sorge: ihren Gefangenen irrezuführen.

      Mochte dem Coquillard die Last auf seinen Schultern zu schwer werden oder man einen Weg bei bewohnten Häusern zurückzulegen haben, er löste den Strick, der die Beine Sanson von Longvals zusammengehalten hatte, nahm den einen Arm des alten Scharfrichters, einer seiner Gefährten bemächtigte sich des anderen, und so zwangen sie ihn, zwischen ihnen zu gehen.

      Die Unterhaltung seiner Führer hörte plötzlich auf, und sie bemühten sich, das