»Beim Gehen tut’s noch ein bißchen weh«, antwortete Ivo wahrheitsgemäß.
Dr. Scheibler dachte eine Weile nach, dann nickte er. »Also schön, Sie können heute nach Hause gehen. Ich richte Ihre Entlassungspapiere her, aber ich verlasse mich darauf, daß Sie bis auf weiteres zweimal wöchentlich hierherkommen und die Wunde anschauen lassen.«
»Ganz bestimmt«, versicherte Ivo, dann stand er auf und zog sich wieder an. »Kann ich gleich gehen?«
Dr. Scheibler mußte lächeln. »Nein. Ich habe doch gesagt, daß ich die Entlassungspapiere noch herrichten muß. Ein bißchen Geduld werden Sie ja wohl noch haben.« Er betrachtete den sympathischen jungen Mann. »Wo haben Sie denn bisher gearbeitet?«
»In dem kleinen Detektivbüro in der Kreisstadt«, antwortete Ivo.
Dr. Scheibler versuchte gar nicht erst, sein Erstaunen zu verbergen. »In einem Detektivbüro?«
Ivo nickte. »Es war zum Teil recht interessant, obwohl die Stellung für mich eigentlich nur deshalb einen so großen Reiz hatte, weil ich dadurch gleichzeitig eine Wohnung bekam. Unserem Chef gehört hier in Steinhausen nämlich ein kleiner Appartementblock, den er an seine Mitarbeiter vermietet.« Er senkte den Kopf. »Ich war damals arbeitslos und hatte zudem auch noch ziemlichen Ärger mit meinen Adoptiveltern, daher kam mir dieser Job natürlich sehr gelegen.«
»Ihre Offenheit mir gegenüber freut mich sehr«, gab Dr. Scheibler zu. »So genau wollte ich es aber gar nicht wissen. Ich war vielmehr über Ihre Tätigkeit an sich erstaunt. Wenn Sie in einem Detektivbüro gearbeitet haben – wie kommen Sie dann darauf, sich hier als Krankenpfleger zu bewerben? Diese beiden Tätigkeitsbereiche sind ja nicht unbedingt miteinander verwandt.«
Ivo lachte. Es war ein offenes, ehrliches Lachen. »Wissen Sie, ich habe in meinem Leben schon vieles ausprobiert. Als ich aus der Schule kam, zwangen mich meine Eltern in ein Büro, aber das war nichts für mich. Ich kann nicht acht Stunden täglich an einem Computer sitzen. Nach meiner Lehre machte ich mich also auf die Suche nach einem Job, der mir gefiel, und landete in einer Gehörlosenschule… na ja, es war nicht nur eine Schule, sondern eine ziemlich große Einrichtung mit integrierter Klinik. Da arbeitete ich ein paar Jahre als Krankenpfleger, doch dann wurde die Klinik unrentabel, und ich stand plötzlich auf der Straße. In den beiden Jahren danach war ich kurzzeitig in einem Altenheim, sprang im Kindergarten der Kreisstadt als Koch ein und war sogar ein paar Monate lang auf dem Bau als Maurergehilfe.« Sehr ernst sah er Dr. Scheibler an. »Verstehen Sie mich jetzt nicht falsch. Es ist nicht so, daß ich es nirgends lange aushalten würde. Mir wurde auch nie gekündigt, weil man mit meiner Arbeitsleistung nicht zufrieden gewesen wäre. Es waren einfach immer widrige Umstände, die dazu geführt haben.« Er fuhr sich durch das dichte, dunkelblonde Haar. »Meinen Eltern hat mein Lebenswandel natürlich nicht gepaßt, und als ich meine Maurerstellung verloren hatte, wollten sie mich auf Biegen und Brechen in die EDV-Abteilung einer großen Firma bringen. Zum gleichen Zeitpunkt las ich die Annonce des Detektivbüros und bewarb mich dort. Ich wurde eingestellt, bekam das kleine Appartement in Steinhausen und überwarf mich endgültig mit meinen Eltern. Ich versuchte noch ein paarmal mit ihnen Kontakt aufzunehmen, wollte sie davon überzeugen, daß ich weiß, was das Richtige für mich ist, aber…« Er schwieg mit gesenktem Kopf, dann blickte er Dr. Scheibler wieder an.
»Hier in Steinhausen traf ich Sándor wieder, mit dem ich viele Jahre zuvor gemeinsam in der Schule war. Schon damals gingen wir durch dick und dünn, und diese Freundschaft lebte wieder auf. Dann lernte ich Anne kennen. Mein Leben war rundherum in Ordnung – bis jetzt. Anne hat mich sitzenlassen, mein Chef hat mir gekündigt, weil die Aufträge in letzter Zeit abnahmen und ich eben der Letzte war, der eingestellt worden war. Mit der Kündigung habe ich auch meine Wohnung verloren… besser gesagt, bis in sechs Wochen muß ich halt ausgezogen sein. Aus Kummer darüber habe ich mich dann sinnlos betrunken.« Er zeigte ein schiefes Grinsen. »Viel war dazu nicht nötig, weil ich praktisch nie Alkohol trinke. Wie auch immer, Sándor hat mich jedenfalls aufgesammelt, was in meinem Zustand auch nicht ganz einfach war, und hierher gebracht.« Er zuckte die Schultern. »Nun wissen Sie alles.«
»Ja, das kann man wohl sagen«, meinte Dr. Scheibler und legte eine Hand auf Ivos Arm. »Ich richte jetzt Ihre Entlassungspapiere her, dann gehen Sie nach Hause und suchen Ihre Unterlagen heraus – auch wenn das vermutlich nur noch eine Formsache sein wird. Für heute nachmittag bestelle ich Dr. Daniel und Frau Dr. Walther in mein Büro, und dann setzen wir uns in aller Ruhe zusammen.« Er lächelte Ivo an. »Ich glaube, Sie werden bald wieder eine Stellung haben.«
*
Als Nikola Forster um die Mittagszeit erwachte, saß Dr. Daniel an ihrem Bett. Noch etwas benommen von der durchwachten Nacht und dem langen Vormittagsschlaf richtete sich Nikola auf und griff nach ihrem Block.
Haben Sie die ganze Zeit über an meinem Bett gesessen? wollte sie wissen.
Dr. Daniel las, dann schüttelte er lächelnd den Kopf. »Nein, Nikola, ich war zwischendurch mal eben in der Praxis.« Er wurde ernst. »Ich bin hier, um das Untersuchungsergebnis mit Ihnen zu besprechen.«
Nikola erschrak ein wenig. Der Stift flog über das Papier. Ist es etwas Schlimmes?
»Die Krankheit an sich läßt sich gut mit Antibiotika behandeln«, antwortete Dr. Daniel. »Es handelt sich um eine sogenannte Chlamydien-Infektion, die ausschließlich durch Geschlechtsverkehr übertragen wird.«
Nikola verstand.
Der Mann, der mich vergewaltigt hat, schrieb sie, und Dr. Daniel bemerkte, daß ihr jedes Wort schwergefallen war.
»Das ist anzunehmen«, meinte Dr. Daniel, zögerte kurz und fuhr dann fort: »Was ich jetzt frage, muß Ihnen sehr indiskret vorkommen, aber ich muß es wissen – aus rein medizinischen Gründen. Hatten Sie und Ihr Verlobter seit der Vergewaltigung intimen Verkehr?« Er schwieg kurz. »Dabei könnte er sich nämlich ebenfalls angesteckt haben und müßte dann auch behandelt werden.«
Nikola griff nach Block und Stift und begann zu schreiben: Wir waren seit jenem Tag nicht mehr intim. Ich habe Ausreden benützt, weil ich es nicht ertragen hätte, von einem Mann berührt zu werden – nicht einmal von Kai. Ich liebe ihn, aber auch wenn er mich bloß in die Arme nimmt, muß ich an jene schrecklichen Minuten denken, und dann glaube ich, diesen ekelhaften Geruch zu spüren. Diese Mischung aus Schweiß, Alkohol und etwas, was ich nicht deuten konnte. Erschöpft ließ sie den Stift sinken und reichte Dr. Daniel den Block. Dabei sagte ihr Blick noch viel mehr, als sie zuvor aufgeschrieben hatte. Er sprach von tiefer Verzweiflung, Angst und dem Gefühl, daß sich ihr Leben nie wieder ändern würde.«
»Ich kann mir wahrscheinlich nicht einmal vorstellen, wie genau Ihnen zumute ist«, erwiderte Dr. Daniel ernst. »Vermutlich ist es auch kein Trost für Sie zu wissen, daß es anderen Frauen, die dasselbe durchmachen mußten wie Sie, ähnlich geht. Auch sie können oft die Nähe des eigenen Mannes nicht mehr ertragen, obwohl sie zuvor ein erfülltes und harmonisches Leben hatten – in jeder Beziehung.« Er schwieg eine Weile. »Was hat Ihr Verlobter zu Ihren Ausflüchten gesagt? Wurde er nicht irgendwann mißtrauisch? Hat er keine Fragen gestellt?«
Nikola nahm den Block von Dr. Daniel wieder entgegen und schrieb: Kai und ich können nicht täglich zusammensein. Er kommt zwar so oft wie möglich nach Steinhausen, aber gerade in den vergangenen beiden Wochen hatte er oft Überstunden zu machen. Darüber hinaus habe ich behauptet, ich hätte meine Tage. Das hat er mir geglaubt.
Dr. Daniel las, was sie geschrieben hatte, hielt den Kopf aber länger gesenkt, als es nötig gewesen wäre. Zwei Wochen waren seit der Vergewaltigung vergangen, und in der ganzen Zeit sollte Kai Horstmann nicht bemerkt haben, wie seine Verlobte allen Zärtlichkeiten ausgewichen war? Unwillkürlich drängte sich dem Arzt der Verdacht auf, daß der junge Mann Nikola vielleicht gar nicht so sehr liebte, wie sie es glaubte.
In der vergangenen Nacht hatte Dr. Daniel zwangsläufig auch von den Vermögensverhältnissen seiner Patientin erfahren, und schon da hatte ihn der Gedanke gestreift, daß Kai vielleicht mehr in ihr Geld als in Nikola selbst verliebt sein