Endlich hatten sie alles an Bord. Gebauer gab seinen beiden Besatzungsmitgliedern das Kommando zum Ablegen und stellte sich selbst ans Steuer. „Jetzt wollte ich eigentlich schon da sein“, maulte er Behm an, der neben ihm stand. Der gab sich gelassen. „Den toten Bauunternehmer stört’s nicht mehr, ob wir nun ’ne Stunde früher oder später auf Hiddensee sind. Die Spuren sind sowieso hin, weil die letzte Nacht alle durch den Tatort getrampelt sind.“ Gebauer manövrierte vorsichtig das Boot an zwei alten Schleppern vorbei und fuhr dann langsam in Ric htung Fahrrinne Strelasund. Backbord lagen das Ozeaneum und die alten Lagerhäuser, steuerbord die Fachwerkhäuser des Fischerdorfes Altefähr.
„Vitte, Neuendorf oder Kloster?“, fragte Gebauer.
„Erstmal Kloster. Da haben sie den Toten hingebracht. Der Tatort ist wohl am Zeltkino in Vitte. Den kann ich mir dann immer noch ansehen und mich weiter ärgern. Aber du kannst uns dann wieder in Vitte abholen.“
„Der Tote ist Bauunternehmer? Von Hiddensee?“
„Ja, ein gewisser Stein.“
„Peter Stein?“, fragte Gebauer.
„Genau. Kanntest Du ihn?“
„Ich hatte mal mit ihm zu tun, als sie den Anleger in Neuendorf neu gebaut haben und es für unsere Boote einen Liegeplatz geben sollte. War eigentlich ein netter Typ.“
„Augenscheinlich sahen das nicht alle so. Sonst hätte er ja nicht gestern Abend tot am Zeltkino gelegen.“
Behm steckte die Hände in die Taschen. Er hatte keine Lust mehr auf eine weitere Unterhaltung.
Gebauer schob den Gashebel langsam nach vorn. Die Turbinen wurden lauter. Der Bug des Bootes hob sich aus dem Wasser. Wasserfontänen spritzen steuerbord und backbord nach oben.
Nicht mal eine halbe Stunde dauerte es, bis die ersten Bojen für den Tonnenweg zum Hafen Kloster in Sicht kamen. Am Kai wartete Damp mit dem Polizeiwagen.
Auf dem Weg zur Leichenhalle berichtete er Behm, was in der vergangenen Nacht passiert war, wer Stein gefunden hatte, was Doktor Möselbeck vermutete und wie sie versucht hatten, den vermeintlichen Tatort zu sichern.
„Wer passt dort jetzt auf, nachdem es hell geworden ist, dass da keiner rumtrampelt?“
„Keiner“, antwortete Damp. „Wie sollen wir denn zu zweit alles organisieren? Rieder ist bei Steins Frau. Ich musste mich um den Zeugenaufruf kümmern ...“
„Als ob das jetzt so wichtig wäre ...“
Obwohl die Inselkirche nur gut dreihundert Meter vom Hafen entfernt war, kam Damp nur langsam mit dem Auto voran. Auf dem Hafenweg musste er zahlreiche Touristen und Reisegruppen umkurven. Obwohl sie gerade erst mit dem Schiff von Rügen angekommen waren, drängten sie sich gleich vor den beiden Souvenirläden kurz vor der Kreuzung am Pasterteich.
„Die haben noch nichts von der Insel gesehen, kaufen aber schon irgendwelchen Kitsch“, meinte Behm.
„Es ernährt aber seinen Mann hier auf der Insel“, erwiderte Damp.
„Für mich sind diese Läden nichts anderes als moderne Wegelagerei.“
Damp parkte auf dem Platz für die Fuhrwerke neben der Inselkirche. Von dort führte ein kleiner Pfad zur Leichenhalle.
Vor dem Gotteshaus hatten sich zahlreiche Schaulustige angefunden, darunter auch viele Insulaner. „Wo kommen die plötzlich her? Haben Sie den Termin auf Ihrem Aushang bekanntgegeben?“, fragte Rieder, der Ulrike Stein hierher begleitet hatte.
Damp wurde wütend. „Sicher! Bin ich ein Trottel oder was? Die können auch alle eins und eins zusammenzählen. Nicht nur die Herren aus der Hauptstadt. Dass Stein hier liegt, ist kein Geheimnis. Oder? Und dass die Witwe hier irgendwann auftauchen wird, können sich selbst die Hiddenseer an ihren Fingern abzählen.“
„Ist ja gut. Ich habe es ja nicht so gemeint“, entschuldigte sich Rieder.
Pfarrer Laube und Doktor Möselbeck warteten schon.
Behm begrüßte Rieder. „Ich halte mich erst mal im Hintergrund, bis die Ehefrau die Leiche identifiziert hat.“
Pfarrer Laube drückte Ulrike Stein fest die Hand und sprach ihr sein Beileid aus. Als Möselbeck Frau Stein sogar umarmen wollte, wehrte sie ihn ab und stieß ihn sogar leicht zurück. Rieder war darüber verwundert. „Ich dachte, Möselbeck und Stein waren Freunde“, flüsterte er Damp zu.
„Das muss ja nicht unbedingt auch für die Frau gelten“, antwortete sein Kollege. Da war was dran, dachte sich Rieder.
Ulrike Stein drehte sich zu Rieder um. „Können wir?“, fragte sie.
Seitdem sie mit Rieder ihr Haus verlassen hatte und sie gemeinsam die gut hundert Meter bis zur Inselkirche gegangen waren, hatte Rieder beobachtet, dass die Frau immer mehr die Fassung verloren hatte. Immer wieder hatte sie sich die Nase geputzt und über die Augen gewischt.
Rieder gab Pfarrer Laube ein Zeichen. Der schloss die Kapelle auf, machte das Licht an. Die Glühbirne erleuchtete den kleinen fensterlosen Raum kaum. In der Mitte stand ein langer Holztisch. Darauf lag der Leichensack. Damp nahm seine Schirmmütze ab. Möselbeck ging an Laube vorbei, zog den Reißverschluss auf und schlug die Plastikhülle zur Seite, damit das Gesicht des Toten besser zu erkennen war. Ulrike Stein trat heran. Sie schlug die Hände vor das Gesicht und begann hemmungslos zu weinen. Ihre Knie knickten ein. Pfarrer Laube sprang zu ihr und fing sie auf. Langsam führte er die Frau aus der Halle ins Freie.
„Obwohl sie getrennt gelebt haben, scheint er ihr trotzdem nicht egal gewesen zu sein“, meinte Rieder zu Damp.
„Man steckt nicht drin“, antwortete Damp lapidar. „Ich werde ihr anbieten, sie nach Hause zu fahren. Vielleicht besser, wenn man das hier so sieht.“ Dabei deutete er auf den Platz vor der Inselkirche. Dort hatte man alles genau beobachtet und ließ auch jetzt keinen Blick von der trauernden Witwe.
Damp setzte wieder seine Mütze auf, straffte sich und ging zu Pfarrer Laube und Ulrike Stein.
Jetzt trat Behm an die aufgebahrte Leiche. Möselbeck hatte sich über Stein gebeugt. „Das Hämatom an der Schläfe ist deutlich ausgeprägt. Es gibt für mich keinen Zweifel. Er wurde durch einen Schlag auf den Kopf getötet.“ Behm sah sich die Verletzung genauer an. „Kann man nicht von der Hand weisen. Ich würde aber trotzdem die Autopsie abwarten. Sie schließen einen natürlichen Tod definitiv aus?“, wandte er sich an den Inselarzt.
„Definitiv!“
„Okay, dann wollen wir mal.“ Behm zog den Reißverschluß des Leichensacks völlig auf. Er gab seinen Mitarbeitern ein paar Anweisungen. Die Hände des Toten wurden in Plastiktüten verpackt, damit keine DNA-Spuren vernichtet wurden. Außerdem wurden zahlreiche Fotos von dem Toten und der Wunde an der linken Schläfe gemacht.
„Habt ihr die Kleidung schon untersucht?“, fragte er Rieder.
„Nein. In der Dunkelheit gestern Abend hatte ich Angst, irgendetwas zu verlieren.“
Behm begann die Hosentaschen zu durchstöbern. Eine Brieftasche kam zum Vorschein. Ein Schlüsselbund. Ein Fahrschein für die Fähre nach Schaprode. Eine Packung Papiertaschentücher. „Nicht gerade eine große Ausbeute. Kein