Offensichtlich verwechselte der Mann seine Wehrlosigkeit mit stillem Einverständnis, denn später in der Nacht, der Junge war gerade in einen unruhigen Schlaf gefallen, versuchte er es erneut, presste noch einmal seinen stinkenden Aal zwischen die Beine seines Opfers. Am Morgen, als sie einzeln zum Verhör abgeführt wurden, blinzelte er ihm verschwörerisch zu, bevor er durch die Zellentür verschwand. Als hätten sie ein schönes gemeinsames Geheimnis, dieses Dreckschwein, der seine körperliche Unterlegenheit missbraucht hatte … Der kleine Schulz schwor sich im Stillen, ein Kämpfer zu werden. Nie wieder wollte er sich so ohnmächtig wie in dieser Nacht fühlen. Wenig später wurde er wie die Erwachsenen in das Verhörzimmer gebracht.
»Was hast du in deinem Alter auf dem Platz zu suchen gehabt«, herrschte ihn ein Beamter in Zivil an. Dieter konnte nur seinen Oberkörper sehen, der Rest verbarg sich hinter einem schweren Kirschbaumschreibtisch mit Drechselarbeiten aus der Gründerzeit. Auf dem Schreibtisch stand eine gusseiserne schwarze Bürolampe, die auf ihn gerichtet war.
»Gehörst du etwa auch zu diesen Volksschädlingen, die unser schönes Land kaputt machen wollen? Die immer nur ICH, ICH, ICH sagen? Denen die Gemeinschaft einen Dreck wert ist? Kriminell bist du auch noch, was sollen wir bloß mit dir machen.« Er wedelte mit einer dünnen Akte, die auf dem Schreibtisch lag.
»Wenn du nicht so jung wärst, müssten wir dich in den Knast stecken.«
Der Junge starrte schweigend auf das rissige Holz vor seiner Nase. Gern wäre er jetzt klein wie eine Ameise gewesen, die der Holzspalt mühelos verschluckt hätte. Zweimal hatten ihn die Bullen am Bahnhof aufgegriffen. Einmal hatten sie wertvolle französische Seife konfisziert, der Verlust schmerzte ihn heute noch. Sie hatten ihn schon damals zum Verhör geschleppt, dann aber mit einer Verwarnung wieder laufen gelassen. Seiner Mutter und seiner Schwester hatte er den Vorfall natürlich verschwiegen. Und nun diese Akte da, auf der er deutlich seinen Namen SCHULZ in Druckbuchstaben entziffern konnte. Der Junge spürte, wie sich ein Gewitter über ihm zusammenbraute. Aus dieser Lage kam er nicht mehr so einfach raus.
Wenige Stunden später saß er in einer Wolga-Limousine und wurde von einer jungen Polizistin in Uniform bewacht, die die ganze Fahrt über kein Wort mit ihm wechselte. Sie starrte stur nach vorn und schwieg eisern bei seinen drängenden Fragen, wo man ihn denn jetzt hin brächte und ob man seine Mutter benachrichtigt hätte. Das Heim für schwererziehbare Kinder und Jugendliche lag in einer abgelegenen Seitenstraße. Dieter wurde zuerst in einen Duschraum geführt, wo er sich nackt ausziehen musste. Nach der Dusche – er genoss das heiße Wasser, das schwer auf ihn niederprasselte und den ganzen Dreck der letzten Tage fortspülte – erhielt er frische Kleidung und ein üppiges Abendessen im gemeinschaftlichen Essraum. Die Heimzöglinge starrten den Neuzugang neugierig an. Er bekam eine Viererstube zugewiesen, in der noch ein unteres Bett frei war. Der älteste Junge der Stube, der zwei Kopf größer war, begrüßte ihn mit Handschlag: »Damit eins gleich klar ist: Auf dieser Stube bin ich der Chef.«
»Geht schon klar, Chef, ich bin lernfähig«, gab Dieter zurück, und der ältere Junge freute sich über seine schnelle Auffassungsgabe.
Am nächsten Tag zeigte ihm ein Erzieher das ganze Haus und den Außenhof, der mit großen, alten Kastanien bestanden war. Der Erzieher folgte dem Blick des Jungen, der über den hohen Maschenzaun wanderte, der das gesamte Gelände dicht umschloss.
»Ausgang nur mit unserer Erlaubnis«, lachte er und landete einen vertraulichen Klaps auf der Schulter des Jungen.
Die nächsten beiden Wochen zogen sich zäh hin. Er durfte keinen Brief schreiben und bekam auch keine Nachricht von seiner Mutter oder Schwester. Die Erzieher zuckten nur mit den Schultern, wenn er sie darauf ansprach: »Du brauchst eine Sondergenehmigung, und die ist noch nicht erteilt.«
Er freundete sich mit den drei Jungen an, mit denen er sich die Schlafstube teilte. Dem Ältesten war inzwischen Dieters Ruf als »Held des 17. Juni« zu Ohren gekommen. Er betrachtete den Dreikäsehoch jetzt mit anderen Augen und zog ihn eines Tages ins Vertrauen: »Schon mal an Flucht gedacht?«, fragte er ihn, als sie unbeobachtet auf einer Bank im Hof saßen und mit Kieselsteinen auf die metallenen Zaunpfosten zielten, die bei jedem Treffer ein lautes PLONG von sich gaben.
»Na klar, aber wie soll das gehen, der Zaun ist viel zu hoch.«
»Es gibt einen Weg. Der ist nicht ganz ungefährlich. Aber dir traue ich das zu.« Der ältere Junge zeigte auf die breiten Arme der Kastanie, die auf der schmalsten Stelle des Hofes genau zwischen dem Haus und dem Zaun stand.
»Guck mal nach oben. Merkst du was? Da im zweiten Stock liegt unser Zimmer. Und siehst du, wie nah der eine Zweig an unser Fenster reicht?«
Dem kleinen Schulz ging ein Licht auf. Auf der anderen Seite reichte die Kastanie mit ihren oberen Ästen über den Zaun hinüber.
»Wir müssen nur vom Fenster aus auf den Ast steigen, dann …«
»Springen meinst du wohl eher«, wandte der Kleinere ein.
»Na ja, du vielleicht, ich komm’ da schon ran. Ich klettere zuerst rüber, dann helfe ich dir.«
»Und wie kommen wir auf der anderen Seite runter? Das ist zu hoch zum springen!«
»Mach’ dir darüber mal keine Sorgen. Wir verknoten unsere Bettlaken miteinander und machen uns daraus einen Strick.«
Schulzi war hellauf begeistert. Wohl oder übel mussten sie die beiden anderen Zimmergenossen in den Fluchtplan mit einweihen. Einer wollte mitmachen. Der vierte Junge traute sich nicht und hoffte zudem auf seine baldige Entlassung. Er versprach aber absolutes Stillschweigen.
Er sah ihnen ängstlich zu, als sie in der folgenden Nacht wie auf ein verabredetes Zeichen hin flink aufstanden, sich lautlos anzogen und die Bettlaken – er musste seins auch hergeben – miteinander verknüpften.
»Das ist jetzt lang genug«, flüsterte der Älteste.
»Ich steig’ als erster raus. Wenn ich auf dem Baum bin, werft ihr mir unser hübsches Seilchen zu!« Vorsichtig öffnete er das Fenster und spähte hinaus. Draußen war alles ruhig. Er hockte sich auf den äußeren Fenstersims und schwang sich von dort mühelos auf den nächsten größeren Ast der Kastanie, der weich unter ihm nachgab. Er fand schnell einen Halt und winkte den anderen, sie sollten die Bettlaken, die sie zu einem Bündel zusammengerollt hatten, zu ihm herüberwerfen. Dann glitt der andere Junge hinüber. Dieter wagte sich als letzter. Er musste springen und verließ sich dabei ganz auf den ältesten Jungen, der ihn sicher packte und in den Baum hineinzog. Die Zweige, die ihm ins Gesicht schlugen, dufteten nach Freiheit.
»Das war Nummer Eins. Jetzt kommt der krönende Abschluss«, flüsterte der Älteste.
Behände wie Katzen kletterten sie durch die Kastanie auf den größten Ast, der knapp über dem etwa vier Meter hohen Zaun weit in die Freiheit ragte. Sie befestigten ihren provisorischen Strick sicher an dem Ast und ließen sich – so schnell es ging – daran herunter. Augenblicke später hatte sie die Dunkelheit der Nacht verschluckt, zurück blieben die Bettlaken, die hinter dem Zaun schwach schimmerten. Im Morgengrauen nahm sie ein Milchwagen mit. Der Fahrer war wortkarg und kaute auf seiner erloschenen Pfeife herum, die er unablässig vom einem Mundwinkel in den anderen schob. Sie erzählten ihm, sie seien Vettern und müssten zu einem dringenden Familienbesuch in der nächsten Stadt. Glücklicherweise war es Samstag, und der Verdacht, dass sie die Schule schwänzten, konnte nicht aufkommen. Die Flucht war geglückt, aber wie ging es jetzt weiter?
Am