Bei seinem ersten Besuch bei seiner Schwester hatte er sich die Stadt ansehen wollen. Neugierig ging er durch die Straßen und war überrascht von ihrem maroden Zustand. Von den Fassaden bröckelnder Putz, geschlossene Geschäfte, mit Pappe vernagelte Fensterhöhlen. Im Kopfsteinpflaster fehlten einzelne Steine und aus den Regenrinnen wuchsen Grasbüschel. Im Stadtzentrum sah es nicht viel besser aus. Die Plattenbauteile, die historische Fassaden nachahmen sollten, hatten Risse im Beton. In den Boutiquen der DDR-Mode-Marke EXQUISIT, einst ein Schaufenster des realsozialistischen Staates im längst verlorenen Wettbewerb mit den Brüdern und Schwestern im Westen, hatte Billigware Einzug gehalten. Die Zeichen der neuen Zeit machten sich überall bemerkbar. Handwerker standen auf Leitern und schraubten Marlboro-Reklameschilder an, und vor den Sparkassen aus der DDR-Zeit standen die Menschen Schlange, um ihre Ersparnisse in die begehrte West-Mark umzutauschen. In den Händen hielten sie Plastiktüten von Aldi und Kaufhof als Ersatz für die früheren Einkaufsbeutel aus Stoff. Ein junger Mann trug stolz ein T-Shirt in den Farben Schwarz-Rot-Gold. Auf seiner Brust prangte der Bundesadler. Nur die Straßennamen ließen sich nicht so ohne weiteres austauschen. Die Ernst-Thälmann-Straße hieß weiter Ernst-Thälmann-Straße, und der Rosa-Luxemburg-Platz blieb vorläufig der Rosa-Luxemburg-Platz. Die vom Burda-Konzern extra für den Osten frisch auf den Markt geworfene SUPER-ILLU erklärte mit schreienden Balken-Überschriften den Passanten, was sie früher alles falsch gemacht hätten und warum jetzt alles SUPER werden würde.
Der Marktplatz war voller Stände mit fliegenden Händlern, die den Einzug in die neue Welt grenzenlosen Konsums versprachen, Fernseh-Elektronik, Playstations, Video-Recorder, Messer aus Solingen, Küchengeräte von Bosch, Porno-Zeitschriften und -Videos, West-Kondome – da war die Gleitfähigkeit angeblich besser –, indische Räucherstäbchen, Sari-Hemden aus Ceylon und jede Menge Plastikspielzeug für die Kleinen. Dazwischen etwas verloren die eine oder andere Vietnamesin mit Zuckerwatte und der Stand einer in einen Privatbetrieb umgewandelten ehemaligen landwirtschaftlichen Produktions-Genossenschaft. Die stämmigen Verkäuferinnen trugen rot-weiß gestreifte Schürzen und boten Früh-Kartoffeln, Kirschen, Eier und Putenfleisch an. Der Kampf um das Überleben ihrer Betriebs stand ihnen ins Gesicht geschrieben. An jedem Stand hing ein Schild mit dem Hinweis, dass Ost- und West-Mark akzeptiert würden, und in welchem Umtauschverhältnis.
»Willkommen im Westen«, brummte Schulz grimmig. Er blieb vor einem kleinen Mercedes-LKW mit Hamburger Kennzeichen stehen, von dessen Ladefläche aus ein ganz in Leder gekleidetes Pärchen Kofferradios verkaufte. Unter den Kaufwilligen entdeckte er zwei Soldaten der Sowjetarmee. Schulz trat hinter sie, um die vertraute Sprache wieder zu hören. Ihrer Unterhaltung entnahm er, dass sie nicht einmal zu zweit den geforderten Preis zusammenbringen konnten. Der Typ in Motorradjacke, mit goldenem Ohrring und einem T-Shirt mit dem Totenkopf-Emblem des Hamburger Stadtteils St. Pauli, blieb stur und ließ sich nicht um die fehlenden acht West-Mark herunterhandeln. Dieter Schulz sah seine Stunde der Wiedergutmachung gekommen. Er wollte den Soldaten ihren Wunsch erfüllen, so wie ihm damals in Leipzig der russische Offizier, der ihn in den Zirkus eingeladen hatte, wo er wieder den Schweiß der geliebten Kosaken-Pferde riechen konnte und ihm auf seinem Logenplatz die Sägespäne um die Ohren flogen. Er hielt dem Händler die verlangte Summe hin und überreichte den verdutzten Soldaten das Kofferradio. Sein Russisch war sehr viel flüssiger, als er befürchtet hatte. Er wusste nicht, was die beiden jungen Männer in Uniform mehr überraschte, sein gutes Russisch oder die Tatsache, dass ihnen ein wildfremder Deutscher ein Kofferradio schenkte. Sie stellten ihm viele Fragen, und ein paar Marktbesucher blieben neugierig stehen. Schulz wollte jedes Aufsehen vermeiden und lud die beiden in ein Café am Marktplatz ein.
Es blieb nicht bei Kaffee. Einige Runden Wodka später kannten sie seine Geschichte. Die frühe Kindheit in Königsberg/Kaliningrad, seine ersten Begegnungen mit russischen Soldaten und seine Liebe zur russischen Kultur und Sprache, die sich aus diesen prägenden Erlebnissen entwickelt hatte und die ihn nun mit aller Vehemenz einholte. Denn die Stunden mit dem russischen Offizier und seiner Familie im Zirkus zählten für Schulz zu den glücklichsten seiner Kindheit.
Erika hatte Zucker und war übergewichtig. Ihr fiel das Laufen schwer. Wenn sie eine längere Wegstrecke zu Fuß zurücklegen musste, taten ihr die Knie weh. Dieter fuhr mit ihr nach Frankfurt a.d.O. und lud sie in das Restaurant »Zur alten Oder« ein, ein Hotel mit hundertjähriger Tradition, das inzwischen wieder als Familienbetrieb geführt wurde. Erika hatte es vorgeschlagen. Sie hatte schon häufiger dort gegessen, das letzte Mal bei einem Betriebsausflug der Molkerei.
Sie hatte sich schick gemacht und von ihrer Friseuse die Haare legen lassen. Sie las die neu gestaltete Speisekarte und runzelte die Stirn. Die Preise waren im Verhältnis zu früher astronomisch hoch und dazu noch in West-Mark. Empört wollte sie das Lokal verlassen, Dieter hielt sie nur mit Mühe zurück: schließlich sei sie von ihm eingeladen. Das sei die neue Zeit. So hätten sie es doch alle gewollt, dafür waren sie auf die Straße gegangen und hatten das System gestürzt! Jetzt müsse man sehen, was daraus werden würde. Ein neues, freies, anderes Deutschland, in dem wirklich der Volkswille regiere, oder eine Filiale des Westens, ein weiterer Konsumtempel, eine Markterweiterung Richtung Osten, – sonst nichts.
Erika blieb stumm. Sie war nicht mit den anderen auf die Straße gegangen, sie hatte ihr SED-Parteibuch immer noch und Angst vor der Zukunft. Die Stadt hatte das Mietshaus, in dem sie wohnte, zum Schnäppchenpreis an einen Investor aus München verkauft. Ein Zahnarzt, wie ihr die Nachbarin berichtete. Das Gerücht ging um, dass er alles komplett modernisieren wolle. »Was soll das«, hatte Erika gesagt, »das Haus ist doch noch neu mit eingebauten Bädern und Küchen, wo gab es das denn sonst in Altbauten, da musste man den Abort auf halber Treppe in Kauf nehmen.« – »Hast du eine Ahnung«, hatte die Nachbarin geantwortet, »unsere Wohnungen entsprechen doch nicht mehr den West-Standards. Da werden alle Leitungen raus gerupft und neu verlegt.« – »Und wo bleiben wir so lange?« – Das wusste die Nachbarin natürlich nicht und auch nicht, ob sie danach noch die neue Miete bezahlen könnten.
»Vielleicht hörst du dir mal die Geschichte von einem meiner Kollegen aus der Molkerei an«, sagte Erika schließlich »total verrückt. Dem ist die Frau in den Westen abgehauen. Als ich ihm von dir erzählt habe, hat er gefragt, ob er dich vielleicht treffen könnte.«
Dieter traf den Mann am Abend in seiner überheizten Neubauwohnung in einer erst kürzlich fertig gestellten Plattenbausiedlung mit fließend Warmwasser, Einbauküche, Schrankwand, Essecke, Sofaecke, vertäfelter Garderobe, Teppichböden. Vor der Haustür der blanke Lehm, die geplante Grünfläche würde noch auf sich warten lassen. Auf dem Parkplatz und vor der langen Reihe Garagen mit Wellblechdächern und vom Regen angefressenen Holztoren musste man über Pfützen springen, aber eine mitleidige Seele hatte ein paar geborstene Steinplatten in die Lehmkuhlen gelegt. In der Wohnung eine pedantische Ordnung wie in einer Zahnarzt-Praxis. Herr Tautenhahn hielt ihm ein paar Pantoffeln hin: »Könnten Sie bitte Ihre Schuhe ausziehen? Sie haben ja bestimmt den Dreck draußen gesehen«, fügte er entschuldigend hinzu.
Ein perfekter Haushalt in einer perfekten Wohnung, deren sechzig Quadratmeter bis auf den letzten Zentimeter mit wuchtigen, teuren Möbeln vollgestellt waren. Beim Anblick der fünf Meter langen Schrankwand, die bis unter die Decke reichte, hatte Dieter das Gefühl, erdrückt zu werden. Die beiden Kinder, auf die außer ein paar sorgfältig zusammengelegten Kniestrümpfen auf dem Couch-Tisch nichts hinwies, lagen bereits im Bett.
Herr Tautenhahn reichte ihm eine Flasche Wernesgrüner Pilsener.
»Glas?«, fragte er.
Dieter verneinte und prostete ihm mit der Flasche zu.
»Mit der Ramona, meiner Frau, das ist wie ein Krimi«, begann Tautenhahn seine Erzählung.
»Letztes Jahr am fünften November, also vier Tage vor der Maueröffnung, hatte ich Geburtstag. Wir haben hier in der Wohnung gesessen und gefeiert. Meine Schwägerin war auch noch dabei. Am Abend hat Ramona ihren Freund in Weimar angerufen und sich länger mit ihm unterhalten. Danach hat sie ein paar Sachen in eine Tasche geworfen, den Schlüssel von unserem Trabbi genommen und ist gegangen. Seitdem habe ich sie nicht wiedergesehen.«
Ramona hatte seit Jahren ein Verhältnis mit einem geschiedenen Diplomchemiker aus Weimar. Tautenhahn hatte es akzeptiert,