»Aber der Heinz, äh, ich meine der Chef wird das niemals zulassen!«
»Lass das mal meine Sorge sein, Du stehst ab sofort unter meinem persönlichen Schutz. Wie viel Prozent hast du beim Heinz verdient?«
»Zehn Prozent.«
»Na also, bei mir würdest du fünfundzwanzig Prozent bekommen. Überleg’ es dir einfach. Du musst dich nicht sofort entscheiden.«
Der Junge war wie betäubt von diesem Angebot. Zum Abschied schenkte sie ihm das Kaviardöschen und strich ihm über das wilde Haar: »Los, trau dich was, dann kommen goldene Zeiten auf dich zu!« Dieser geheimnisvolle Satz kam ihm wie ein Versprechen vor.
»Träum’ nicht Dieter«, hörte er seine Mutter neben sich, »mach’ endlich deine Schularbeiten.« Widerwillig zog er das Mathematikheft aus dem Schulranzen und begann eine Rechenaufgabe zu lösen. Nach dem Abendessen hob sich die kleine Familienrunde schnell auf. Seine Schwester hatte sich mit ihrem neuen Freund zum Tanzen verabredet. Behände lief Schulzi die steinerne Treppe in dem ehemals gutbürgerlichen Stadthaus hinauf, in das seine Familie einquartiert worden war. Die Mutter war auf der Baustelle durch ihren Fleiß aufgefallen. Ein gutmütiger Brigadeleiter kannte ihr Schicksal als alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern und hatte ihr bei der Wohnungssuche geholfen.
Aus dem Abort auf der halben Treppe schlug dem Jungen ein beißender Geruch entgegen. Vorsichtig, um keinen Krach zu machen, schob er die Tür zum Bodenraum auf. In einer Ecke stand eine Kommode, die eine in den Westen geflüchtete Familie zurückgelassen hatte. In einer der Schubladen unter ein paar Lumpen versteckte er die Schwarzmarktware, die er aus der verwunschenen Wohnung bezog. Ausgiebig betrachtete er sie Stück für Stück und untersuchte dabei die Verpackungen auf mögliche Schäden. Er roch ein bisschen am Verschluss der Kölnisch-Wasser-Flasche und ließ die Verpackung der Netzstrümpfe unter seinen Fingern knistern. Einen Augenblick stellte er sich vor, wie wohl seine Schwester darin aussehen würde.
Der Junge seufzte und verbarg sie wieder sorgfältig unter den Lumpen. Er konnte sie eh seiner Schwester nicht schenken. Sein Chef wartete auf die Ware.
»Wenn ich mich selbstständig mache, ist das meins, und ich kann damit machen, was ich will«, dachte er. Ein leichtes Geräusch in seinem Rücken ließ ihn herumfahren. Doch da war nichts. Glitzernde Staubflöckchen tanzten im warmen Abendsonnenlicht, das schräg durch die Dachluke hereinströmte. Die Respekt einflößende Frau in der roten Tunika hatte recht. Er musste sich nur trauen.
Schulzis Selbstbewusstsein stieg mächtig, als ihn wenige Tage später ein sowjetischer Offizier in den Zirkus einlud. Der russische Staatszirkus gastierte in der Stadt, und er durfte hinein! Bei dem Gedanken wurde ihm schwindelig. Der Oberst, dem er dabei geholfen hatte, wundervoll riechende französische Seife zu erwerben, mochte den mageren kleinen Jungen mit den wachen Augen, der ihm in fließendem Russisch von Kaliningrad erzählte. Er war ganz betroffen. Unter seinem Kommando hatte die sowjetische Panzerspitze den letzten deutschen Widerstand überrollt.
Mutter wusste von der Einladung. Er wäre geplatzt, wenn er es ihr nicht hätte erzählen können. Natürlich erfuhr sie nicht im Detail, bei welcher Gelegenheit er den Oberst kennen gelernt hatte. Er habe ihm beim Übersetzen geholfen, und damit sagte er ja nicht die Unwahrheit. Mutter ermahnte ihn, sich ordentlich zu waschen, und legte ihm sein bestes Hemd zurecht. Pünktlich zur Nachmittagsvorstellung wartete er, aufgeregt von einem auf das andere Bein hüpfend, an der Zirkuskasse und studierte die farbenprächtigen Plakate mit brüllenden Löwen, hochmütig dreinblickenden Giraffen und Elefanten, die mit ihren dicken Hintern auf mächtigen Hockern saßen, die Rüssel hoch in die Luft erhoben.
»Und wenn der Oberst nun gar nicht kommt und sich nur über mich lustig gemacht hat?« – Das Herz wurde dem Jungen schwer. Die Minuten verstrichen quälend langsam. Als er die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte und die ersten Fanfarenstöße und Trommelwirbel im zum Greifen nahen Zirkuszelt den Beginn der Vorstellung ankündigten, fuhr der schwarze Moskowitsch des Obersten vor. Galant half er einer eleganten Dame beim Aussteigen. Hinter ihr purzelten zwei Mädchen mit blonden Zöpfen aus dem Wagen und stellten sich neugierig vor Dieter auf.
»Los geht’s!«, rief der Oberst den Kindern zu, und ein Zirkusdiener, der ehrfürchtig die Spange mit den Tapferkeitsmedaillen registriert hatte, geleitete die Familie und den Jungen zu einem Logenplatz direkt an der Manege. Dieter konnte sich nicht satt sehen. Die Peitsche knallte, und seine geliebten Kosakenpferde bäumten sich im Halbkreis direkt vor ihm auf, er hätte ihre Hälse fast umarmen können.
»Na, zu viel versprochen?«, lachte der Oberst ihm zu, und seine Frau schaute ihn freundlich an. Der Junge war benommen vor Glück. Die Welt schien ihm weit offen zu stehen, er musste nur zugreifen. Morgen würde er wieder die Frau in ihrer geheimnisvollen Wohnung besuchen und zum ersten Mal seine eigene Schieberware abholen.
3
1953: Aufstand im Arbeiter- und Bauernstaat
Am Morgen des 17. Juni 1953 beschloss der kleine Dieter, wieder einmal die Schule zu schwänzen. Er verbarg seinen Schulranzen auf einem Trümmergrundstück hinter der Reinigungsklappe eines Kamins, der niemals mehr einen Schornsteinfeger brauchen würde. Diesen Platz nutzte er mitunter auch als Zwischenlager für seine Schieberware. Unter den Schwarzmarkthändlern am Leipziger Bahnhof war er inzwischen eine große Nummer. Seine Russischkenntnisse erwiesen sich als unschlagbarer Vorteil gegenüber seinen teilweise Jahrzehnte älteren Konkurrenten. Längst bezog er französisches Parfüm, feine japanische Seidenstoffe und sogar Schweizer Präzisionsuhren aus der düsteren, großbürgerlichen Wohnung, in der seine neue Beschützerin und Geschäftspartnerin über ihre Schätze wachte. Die meisten »Kollegen« am Bahnhof gönnten ihm neidlos seinen Erfolg, sie hatten eine gewisse Hochachtung gegenüber diesem Dreikäsehoch, der ihnen kaum bis zur Brust reichte.
Etwas war heute anders als sonst. Etwas Unbeschreibliches lag in der Luft. Die Menschen strömten mit schnellen Schritten aus allen Winkeln und Vororten Leipzigs Richtung Innenstadt. Sie sprachen nicht viel, in ihren aufmerksamen Gesichtern lag ein Ausdruck großer Entschlossenheit. Dieter ließ sich einfach mittreiben. Er war viel zu neugierig, um sich entgehen zu lassen, was der Grund für diesen Aufmarsch war. Menschenansammlungen gehörten zu seinen frühesten Kindheitserinnerungen in Königsberg. Damals standen sie an, in endloser Reihe an einer der letzten intakten Wasserzapfstellen in den Straßen der Stadt, die ein sinnloser Durchhaltebefehl aus dem Berliner Reichsführer-Bunker dem Erdboden gleich gemacht hatte. Nie wieder würde er die trostlosen Gesichter vergessen, zerlumpte, staubbedeckte Gestalten, die sich aus den Umrissen der Ruinen lösten. Doch heute war alles anders. Die Menschen zeigten helle Mienen, ihr Blick war erwartungsvoll nach vorn gerichtet.
Auf dem Karl-Marx-Platz hatte sich eine unübersehbare Menge versammelt. Nichts glich den sonst üblichen Aufmärschen, den 1.-Mai-Feiern mit geschmückter Tribüne, schwitzenden Festtagsrednern in schlecht sitzenden Anzügen und Abordnungen der Parteijugend in blauen Blusen. Rufe wurden laut, die ersten Sprechchöre wurden skandiert. Dieter drängte sich zwischen den Beinen so weit wie möglich nach vorn. Plötzlich packte ihn eine tellergroße Faust.
»Du siehst ja nischt, Kleiner«, dröhnte eine bärbeißige Stimme von oben herab. Ohne seine Antwort abzuwarten, wurde er emporgerissen und mit Hilfe weiterer kräftiger Arme auf die ochsenbreiten Schultern des Zimmermanns verfrachtet.
»Die da zwei Reihen vor uns, die mit den roten und schwarz-roten Fahnen, das ist meine Brigade«, rief er dem Jungen fröhlich zu. Dieter betrachtete ausgiebig die Männer in ihren schwarzen Samtwesten, aus denen bauschige weiße Hemdsärmel hervorlugten. Sie schwenkten ihre breitkrempigen Hüte und riefen »Alle Macht den Arbeitern!«, »Freie Gewerkschaften!« und »Weg mit der Ein-Parteien-Diktatur«. Das war ihr Festtag und sie hatten sich dazu ihre beste Zunftkleidung angelegt.
»Jetzt werden wir den Parteibonzen mal richtig einheizen. Wurde höchste Zeit«, lachte der Bär unter ihm. Der kleine Schulz ließ sich von der rebellischen Stimmung mitreißen, die über den weiten Platz wehte.
»Wir wollen freie Wahlen!«, skandierte er mit der Menge und streckte dabei seine kleine Faust in den wolkenlosen Himmel.