Blütenträume. Robert Krieg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Robert Krieg
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783898019033
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seiner praktisch ganz neu aufgebaut war. Ein Trabbi fährt Jahrzehnte, müssen Sie wissen, er wird alle paar Jahre von Grund auf runderneuert, mit neuem Motor und neuer Haut. Ich will ihnen zugute halten, dass sie unsere Volkswirtschaft nicht schädigen wollten und meinen genommen haben, obwohl ich ihn täglich brauche. Das muss bei Ramona ein Kurzschluss gewesen sein: Als die CSSR die Grenzen öffnete, glaubte sie, jetzt oder nie, vielleicht sind in ein paar Tagen die Grenzen dichter als je zuvor.«

      »Und was hat ihre Familie dazu gesagt?«

      »Ihre Familie. Ramona ist die zweitälteste von vier Töchtern. Ihre Mutter ist sehr, sehr streng. Sie hat praktisch keinen ihrer Schwiegersöhne richtig akzeptiert, und als wir heirateten, war sie total dagegen. Ramona ist mit siebzehn von zuhause ausgebrochen und hat mich geheiratet. Mit achtzehn wurde sie Mutter. Ich bin nie ihre große Liebe gewesen.«

      Dieter Schulz rutschte in seinem Sessel unruhig hin und her. Er war überrascht über die Offenheit, mit der sein Gegenüber, den er kaum eine Stunde kannte, die Intimitäten einer gescheiterten Ehe vor ihm ausbreitete, und zugleich spürte er die Einsamkeit dieses Mannes, der wohl niemanden hatte, mit dem er sich aussprechen konnte.

      »Jetzt bin ich sein Taxi-Fahrer oder der Fremde im Zug«, dachte Dieter.

      Tautenhahn stand auf, ging in die Küche zum Kühlschrank und kam mit zwei frischen Flaschen Bier zurück.

      »Ich sage Ihnen etwas, das ich noch nie jemandem gesagt habe. Ramona hat mich immer ihren liebsten großen Bruder genannt. Mit ihren Schwestern verstehe ich mich gut, neulich hab ich noch eine mit den Kindern besucht. Sie versteht überhaupt nicht, warum Ramona weggegangen ist.«

      »Und Sie?«, fragte Dieter.

      »Ich weiß es nicht. Vielleicht hatte sie Angst, sie war politisch sehr aktiv im Oktober. Hat Artikel geschrieben, Flugblätter verfasst. Vielleicht dachte sie, es kommt alles noch viel schlimmer.«

      Tautenhahn reichte Dieter einen farbigen Werbeprospekt von einem ihm unbekannten Ort namens Meßstetten auf der schwäbischen Alb.

      »Das hat sie mir geschickt. Jetzt weiß ich wenigstens, wo sie steckt. Sie hat mir geschrieben, dass ich ihr ihre Arbeitszeugnisse und ihre Geburtsurkunde schicken soll. Sie wird wohl wieder versuchen, als Krankenschwester zu arbeiten. Dabei hatte sie hier schon ihre Zulassung zum Studium der Literaturwissenschaften in der Tasche. Als Krankenschwester hat sie zum Schluss nur noch in der Verwaltung gearbeitet, wegen ihrem Ekzem an den Händen.«

      Tautenhahn seufzte und nahm einen Schluck aus der Bierflasche.

      »Sie sind mit dem Trabbi über die CSSR geflüchtet und in ein Auffanglager in Duisburg gekommen. Dort lebt eine Bekannte von ihm. Die ist vor drei Jahren abgehauen und hat zwei Kinder hier gelassen. Ramona schreibt, dass ihr die Kinder fehlen und dass sie die größere Tochter gern bei sich hätte. Aber die Kinder bleiben hier. Das ist ganz klar. Das hat sie selbst so entschieden, am fünften November gab es kein Zurück mehr, da war ihr völlig klar, dass sie sich auch von ihnen trennt! Wer konnte schon ahnen, was am neunten November passiert.«

      Tautenhahn stand erneut auf und wühlte in einem Karton voller Fotos. Als erstes zeigte er Dieter ein Bild der achtzehnjährigen Ramona mit ihrer Neugeborenen: »Sie sieht selbst noch wie ein Kind aus, könnte eher die ältere Schwester sein. Dieses Bild hier«, er wies auf das nächste, »habe ich im vergangenen Herbst gemacht. Ich fotografiere viel und entwickle die Bilder selbst.«

      Dieter sah ein angespanntes, sorgenvolles Gesicht, eine gewisse Verhärtung sprang ihm ins Auge. Dann Bilder von Waldspaziergängen, vom Urlaub in Ungarn. Eine attraktive, junge Frau, die auf jedem Bild eine andere zu sein schien.

      »Ihre Frau hat ja sehr viele Gesichter«, entfuhr es Dieter.

      »Viele Gesichter, ja viele Gesichter.« In Tautenhahn arbeitete es. Wie um sich abzulenken, legte er ein paar Bilder von seiner Arbeit auf den Couch-Tisch, die Brigade im Molkereibetrieb.

      »Wissen Sie, ich komme aus einer gutbürgerlichen Familie. Mein Vater war Zahnarzt und recht wohlhabend. Ein Stipendium hätte ich nicht bekommen, obwohl er in der SED war. Ich habe Ramona in Dresden kennengelernt, da war sie noch in der Schwesternausbildung und ich am Studieren. Ich war für Ramona der Rettungsanker, um aus ihrer Familie rauszukommen. Sie wollte immer weiter, war nie mit sich zufrieden. Sie hat abends ihr Abitur nachgemacht. Dann wollte sie studieren. Sie hat angefangen, sich für Politik zu interessieren, das ist nicht mein Fall, bis heute nicht. Sie wollte journalistisch arbeiten. Sie wollte immer höher hinaus!«

      Bei dieser letzten Bemerkung lächelte er verlegen. In seinem Gesicht mischten sich Stolz auf Ramona und die völlige Verständnislosigkeit für ihre Ambitionen. Er holte noch drei Fotos hervor:

      »Die hab ich letztes Jahr am FKK-Strand gemacht.« Eine Serie von Ramona nackt auf dem Bauch liegend mit Blick in die Kamera, ihrer Attraktivität sehr bewusst.

      »Und was wird nun werden?«, fragte Dieter leise.

      Tautenhahn zog die Schultern hoch. Seine Haltung wurde noch gebeugter.

      »Na ja, vielleicht kommt sie demnächst mal auf Besuch, ist ja kein Problem, aber zurückkommen wird sie wohl nicht mehr.« Und nach einer nachdenklichen Pause: »Meinen Trabbi hab ich übrigens wieder. Den hab ich kürzlich aus Duisburg abgeholt. War ja ganz interessant dort. Aber dableiben, nee, kann ich mir nicht vorstellen. Man ist ja doch verbunden mit hier.«

      Es war spät geworden. Herr Tautenhahn hatte noch lange weiter erzählt. In ein paar Stunden musste er los. Schulz verabschiedete sich schnell. Beim Hinausgehen hörte er aus dem Kinderzimmer einen leisen Ruf: Papa!

      Die Kinder schliefen unruhig. In ihren Träumen erschien ihnen die Mutter, über die die beiden Männer im Wohnzimmer so lange geredet hatten. Auf dem Nachhauseweg ließ Dieter die eben gehörte Geschichte nicht los. Ramona war vor Jahren aus ihrer kleinbürgerlichen behüteten Ehe ausgebrochen ohne indes die Geborgenheit in der eigenen Familie aufgeben zu wollen. Sie leistete Basisarbeit in einer der Block-Parteien, die ihr dafür den Studienplatz besorgte. Damals begann es in der DDR-Gesellschaft zu brodeln. Im Sommer 1988 nahm die Ausreisewelle zu, und an der Basis ihrer Block-Partei NDPD, in der kleine Selbstständige, Gewerbetreibende und die sogenannte technische Intelligenz organisiert waren, wuchs der Unmut. Ramona schrieb Artikel für die Parteizeitung, organisierte Versammlungen, versuchte den Unmut der Parteifreunde innerhalb der Parteiorganisation weiter nach oben zu tragen. Sie ging zu Demos. Sie wurde von der Stasi bespitzelt. Sie erschrak über ihren eigenen Mut. Sie spürte die Rücksichtslosigkeit des Apparats, der mit aller Gewalt an der Macht bleiben wollte. Gleichzeitig lag die Veränderung zum Greifen nah. Sie erlebte, wie Leute plötzlich ein Mikrofon in die Hand nahmen, aus dem Schatten traten, Gegenmacht formulierten. Dann das traumatische Erlebnis in Leipzig, als sie in eine Prügelei vor dem Bahnhof geriet. Die Polizei trommelte mit langen Holzknüppeln auf die Plexiglasschilde, die sie erst kürzlich aus Westdeutschland erhalten hatten, und lief mit Gebrüll auf die Leute zu.

      »Bilder, die ich bis dahin nur aus dem Westfernsehen kannte«, hatte sie ihrem Mann erzählt. Hatte sie damals der Mut verlassen?

      »Ja, Leipzig«, dachte Dieter »da hat die Gegenwehr Tradition!«

      In Leipzig hatte der Widerstand begonnen, der das Ende der DDR einläutete. Niemand glaubte, dass die Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche einmal eine derartige Wirkung entfalten würden. Niemand hätte geglaubt, dass aus ein paar Unerschrockenen, die die Botschaft der Bergpredigt ernst nahmen, befeuert von einer Protestbewegung in Westdeutschland, die sich gegen Atomraketen und Atommeiler wehrten, eine respektable Gegenmacht entstehen könnte. Eingedenk des Arbeiteraufstands 1953, keine vier Jahre nach Gründung der DDR, hatte sich die Staatsmacht auf alles gefasst gemacht, aber dass Andachten und Bittspaziergänge ihr System aus den Angeln heben könnten, damit hatte niemand gerechnet.

      Schulz erinnerte sich noch gut an die Ankunft ihres Flüchtlingstrecks in der ausgebombten Stadt, an seine geliebte Mutter. Wie es in Leipzig wohl jetzt aussieht, wahrscheinlich genauso verrottet wie in Eisenhüttenstadt, grübelte er. Er hatte den Ort seiner Entwicklungsjahre nach der Wende noch nicht wieder besucht. In seinem Kopf verdichtete sich ein Bild, das ihm die Tränen in die Augen trieb.