Blütenträume. Robert Krieg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Robert Krieg
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783898019033
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lag, ergriffen einen Wortführer, der mit Megafon die Stimmung angeheizt hatte, und zogen sich mit ihm trotz seiner heftigen Gegenwehr blitzschnell wieder zurück. Die Nachricht von der Verhaftung des beliebten Arbeitersprechers, der für seine unabhängige Meinung bekannt war, verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Die heitere, ja fast volksfestähnliche Stimmung schlug um. Die Menge drängte nach vorn, Empörung machte sich breit, es flogen Pflastersteine und die ersten Fensterscheiben klirrten. Jemand zündete eine Brandfackel an und warf sie auf das Gebäude. Sie verglühte rasch, ohne Schaden anzurichten.

      »Waffen weg, Waffen weg!«, ertönte jetzt ein neuer Ruf und setzte sich immer lauter durch alle Reihen fort.

      »Was ist passiert?«, fragte Dieter. Der muskulöse Arm seines mächtigen Beschützers wies auf das mehrstöckige Haus, aus dessen oberen Geschoss Gewehrläufe blitzten.

      In die Nebenstraßen, die auf den Platz mündeten, kam Bewegung. LKWs fuhren heran, und von den offenen Ladeflächen sprangen Rotarmisten, auf ihre Gewehre waren Bajonette aufgepflanzt. Innerhalb weniger Minuten war der gesamte Platz umzingelt. Rotarmisten Schulter an Schulter, drei Reihen tief gestaffelt, versperrten jeden Fluchtweg. Der kleine Schulz erschrak zutiefst, als er zu verstehen begann, was sich da zusammenbraute. Von seiner erhöhten Position aus konnte er alles beobachten.

      »Da sind die Russen!«, schrie er dem Zimmermann ins Ohr und zeigte in die am nächsten gelegene Nebenstraße.

      »Du spinnst Kleiner«, kam es ungläubig zurück.

      »Doch, doch, ich seh’ genau ihre Bajonette!«

      Der Hüne packte ihn an der Taille und setzte ihn vorsichtig auf das Pflaster. Dann reckte er sich, um besser sehen zu können.

      »Du hast recht«, rief er. »Ah diese Schweine, unsere Beschützer, dass ich nicht lache!« Instinktiv griff er schützend nach dem Nacken des Kindes. Vergeblich, der Junge war schon auf und davon. Flink presste er sich durch die dicht an dicht gedrängten Menschenleiber. Er war von einem Gedanken beseelt. Er musste den russischen Offizier warnen, den er in der nahen Seitenstraße entdeckt hatte. Er war sich sicher: Das war der gleiche, der ihn in den Zirkus mitgenommen hatte.

      »Ich muss mit ihm sprechen, ihm erklären, was die Leute hier wollen. Er versteht das nicht, er kann kein Deutsch. Die Bullen erzählen Lügenmärchen über uns. Ich werde ihm sagen, welche netten Leute ich gerade getroffen habe, die Zimmerleute, Bauarbeiter, alles tolle Kumpel! Die haben doch recht, wenn sie ›alle Macht den Arbeitern‹ schreien. – Schon wieder tanzt alles nach der Pfeife von Parteibonzen! Hat doch auch die Mutter erst vor kurzem gesagt. Er wird mich verstehen und seine Leute abziehen!« Seine dreizehnjährige Jungenseele brannte darauf, Schlimmes zu verhüten. Die Gedanken überschlugen sich in seinem Kopf, während er sich durch die Menge wühlte und hier und da einen wütenden Hieb versetzt bekam.

      Dann hatte er es geschafft und stand den russischen Soldaten direkt gegenüber. Vergeblich versuchte er in ihren Gesichtern zu lesen. Er konnte sie kaum voneinander unterscheiden. So gleichförmig machten sie der Helm, die Uniform, die entsicherte Waffe. Was ging in ihnen vor, würden sie tatsächlich auf ihn schießen, wenn sie den Befehl dazu erhielten? Er wusste es nicht. Vergeblich versuche er den Offizier zu finden, der war verschwunden.

      »He, wir sind doch Freunde, von uns ist keiner bewaffnet, auf Freunde schießt man nicht!«, rief er den Soldaten auf Russisch zu. Vergeblich. Sie taten, als ob sie ihn nicht hörten. Ein scharfer Befehl ertönte. Wie von Geisterhand öffnete sich jetzt eine Gasse zwischen den Soldaten. Hervor trat ein feister Vopo-Offizier, über dessen steifem Uniformkragen ein Speckwulst hing. Er setzte ein Megafon an die Lippen, die er vorher mit seiner Zunge befeuchtete: »Diese Versammlung ist illegal und volksverhetzend. Sie verstößt gegen die Gesetze der Deutschen Demokratischen Republik. Sie ist ab sofort verboten. Jeder, der sich diesem Verbot widersetzt, ist ein Volksschädling und wird verhaftet. Jetzt einer nach dem anderen vortreten und dann den Platz verlassen«, schnarrte das Megafon. Das war das erbärmliche Ende eines Junitages, der so hoffnungsvoll begonnen hatte.

      Das Unglück wollte es, dass sich Dieter beim Verlassen des Platzes plötzlich zwischen den Männern befand, aus deren Reihen die Steine geflogen waren. Kaum hatte er das Spalier der Rotarmisten passiert und wollte gerade losrennen, als ihn eine harte Hand von hinten am Kragen ergriff.

      »Komm’ her, du Früchtchen. Dich kenn’ ich doch! Treibst dich immer am Bahnhof mit dem Gesocks rum«, zischte ein hagerer Vopo. Vergeblich versuchte er sich dessen Griff zu entwinden und dem russischen Offizier etwas zuzuschreien, der plötzlich wieder aufgetaucht war und sich von dem selbstzufrieden blickenden Polizeioffizier eine Zigarette anzünden ließ. Zu spät. Umsonst. Wie zuvor auf dem Platz, aber dieses Mal rücksichtslos, wurde er hochgerissen und auf die offene Ladefläche eines bereitstehenden LKW geworfen. Er war das einzige Kind unter den wortlosen Männern und Frauen, die starr vor sich hinblickten und mit Handschellen an die längsseitigen Bänke gefesselt waren. Wenigstens die Handschellen ersparten sie ihm. Der hagere Vopo und ein junger Kollege, um den die Uniform noch schlotterte, schwangen sich auf die Ladefläche und verriegelten die Klappe.

      »Abfahrt!«, brüllte der Hagere und hieb mit der Faust auf das blecherne Dach des Führerhauses. Der LKW ruckte an.

      Die Fahrt endete auf dem Hof einer leerstehenden, halb verfallenen Fabrik. Hinter dem LKW rumpelte das mächtige, rostige Gatter wieder ins Schloss. Die verhafteten Frauen und Männer wurden in getrennte Räume geführt. Die provisorischen Zellen waren schon teilweise belegt. Kaum dass die eiserne Zellentür zuschlug und der Schlüssel sich quietschend im Schloss drehte, brach ein Stimmengewirr los:

      »Mensch, Franz, du bist ja auch hier! Das hätte ich jetzt nicht von dir gedacht!«

      »Hast du meine Frau gesehen? Wir waren zusammen auf dem Platz, sie haben uns auseinandergerissen.«

      Händeschütteln, da und dort eine Umarmung, Gelächter und Geschimpfe wechselten sich ab. Manchmal wischte sich einer verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. Der Junge konnte sich nicht satt sehen an der Vielfalt der Bilder, die auf ihn einfluteten, ihn in eine ganz neue Welt entführten. Die Angst, was als nächstes kommen würde, war für den Augenblick verflogen. Allein der Gedanke an seine Mutter und Schwester trieb ihn um. Sie würden sich Sorgen machen, wenn er heute Abend ausblieb. Ein Herumtreiber war er, ja, das gestand er sich offen ein, aber über Nacht war er noch nie von zu Hause weggeblieben.

      Der Junge saß fast unbemerkt in einer Ecke gegenüber der Tür und beobachtete die Männer. Er hatte 23 gezählt, jeden Alters, bärtig oder glatt rasiert, in Arbeitsklamotten und im Anzug, mit oder ohne Brille, einer hielt sogar noch seine Aktentasche an sich gepresst, die hatten sie im Tumult wohl vergessen, ihm wegzunehmen. Es gab keine Möbel, nichts, nur ein paar zerschlissene Seegrasmatratzen, auf denen die Männer lagerten. Die Tür wurde aufgerissen, zwei Vopos setzten eine dampfende Terrine auf den Zementboden und warfen ein paar Hände voll Blechteller und Blechlöffel hinterher. Um den Suppentopf entstand ein Gedränge, jeder versuchte, sich als erster zu bedienen.

      »Halt, Stopp, so geht das nicht«, stellte sich ein älterer Arbeiter im Blaumann dazwischen.

      »Wir sind doch keine wilde Affenhorde! Wollt ihr den Vopos bestätigen, was die von uns denken? Also jetzt alle mal schön in eine Reihe aufgestellt. Du da gibst die Suppe aus, hier ist die Kelle, und du Junge, er zeigte mit der Kelle auf Dieter, kommst mal nach vorn. Nicht, dass du hier untergehst in diesem Haufen!«

      Die Männer gehorchten und machten dem Jungen Platz.

      Nach dem Essen verstummten die Gespräche. Die ersten legten sich zum Schlafen hin. Die Zelle war überfüllt und nicht einmal notdürftig eingerichtet. Unter der Decke baumelte eine einzelne Glühbirne. Statt einer Kloschüssel stand in der Ecke ein Eimer. Aus einer trüben Tonne konnte man sich Wasser schöpfen. Urin- und säuerlicher Schweißgeruch vermischten sich in der knappen Luft und machten sie zum Schneiden dick. Die auf dem nackten Zement liegenden, verschmutzten Seegrasmatratzen reichten nicht aus. Der Junge, der sich noch nie mit so vielen Männern einen Raum teilen musste, hatte es über allem Schauen und Staunen versäumt, sich einen Schlafplatz zu organisieren. Einer der Männer winkte ihn zu sich.

      »Komm her, Kleiner, hier ist noch ein bisschen Platz auf