Doemges hat sein Notizbuch eingesteckt und kommt zu Benedict herübergeschlendert. »Sollen wir Sie zum Präsidium mitnehmen, Chef?«
Der erhebt sich mühsam und winkt schlaff ab. »Nee, nee, lassen Sie mal. Ich brauche Bewegung an der frischen Luft. Kleiner Rheinspaziergang wird mir sicher guttun!«
Doemges versucht, teilnahmsvoll dreinzuschauen, aber das sieht aus, als hätte er gerade auf eine Pfefferschote gebissen. Er winkt den beiden Neumännern zu. Der beigefarbene VW Golf mit den drei Männern vom 1. K hinterlässt tiefe Spuren auf dem regennassen Rheinufer.
Hauptkommissar Vitus H. Benedict erhebt sich stöhnend und stapft in Richtung Rheinterrassen. »Hoffentlich hilft’s«, knurrt er vor sich hin.
*
Der Beschluss des siebenköpfigen Armeerates fällt in der Nacht von Sonntag auf Montag. Er ist einstimmig. Die in einem Hinterzimmer des Prisoners' Defence Fund Club im Belfaster Stadtteil Andersonstown tagenden Mitglieder des hohen Koordinationsstabes haben den ganzen Sonntag die Kopie des vierzigseitigen Ablaufplanes aus Bonn sehr genau studiert und beraten. Jetzt ist die endgültige Entscheidung gefallen. Sicher, über den möglichen Besuch des Thronfolgers und seiner Frau in Westdeutschland wurde schon seit einem halben Jahr heftig spekuliert. Auch die wahrscheinlichen Stationen, Bonn, Westberlin, Düsseldorf, Köln, Hamburg und München, hatten die Spatzen fast von den Dächern gepfiffen. Ein Spezial-Kommando, das unmittelbar dem Armeerat unterstellt ist, bereitete sich schon nach den ersten Informationen im April ganz allgemein im Territorialbereich Süd auf eine mögliche Operation in Westdeutschland vor.
Jetzt aber kann die Aktion auf der Basis des vorliegenden Materials in das exakte Vorbereitungsstadium treten. Ablenkungsmanöver sind fixiert, Ort und voraussichtlicher Zeitpunkt des Angriffs festgelegt. Anweisungen zum Aufwecken des Schläfers im Operationsgebiet werden nach Beendigung der Einsatzbesprechung gegeben. Wenn die drei Kämpfer des Spezial-Kommandos im Angriffsgebiet eintreffen, werden sie eine sichere Operationsbasis vorfinden.
Als die Strahlen der aufgehenden Septembersonne ihren Glanz auf die Kuppeln der Belfaster City Hall werfen, ist der Führungsoffizier schon auf dem Weg über die grüne Grenze. Im Laufe des Vormittags wird er dem Kommando den Kampfauftrag übermitteln.
Die wichtigste Operation seit der Liquidierung Lord Mountbattens kann damit beginnen.
Die Operation mit dem Codenamen Berlin.
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An diesem Dienstag ist die Meute friedlich. Es ist nichts zu spüren von dem üblichen Gehechel und Gehetze. Zufrieden sitzt Pressesprecher Stüchow neben dem Leiter des 1. K und verzieht den schmalen Mund zu einem andeutungsweisen Lächeln.
Die im Presseraum versammelte Reporterschar ist auf ganz andere Beute aus. Der Tod der jungen Frau am Rande des japanischen Feuerwerks, der normalerweise die regionale Presse zu Balkenüberschriften veranlassen würde, motiviert die Grenzgänger der Informationslandschaft heute nur zu halb lahmen Nachfragen. Sie genügen eben ihrer Chronistenpflicht, sind aber in Wirklichkeit mehr an dem morgigen Großkampftag mit Staatsbesuch und Fußballspiel interessiert.
»Können wir denn schreiben, dass das der >Spritzer< von Düsseldorf war?«
Hauptkommissar Vitus H. Benedict räuspert sich und sieht den Fragesteller über den Goldrand seiner Brille hinweg an.
»Ja. Können Sie ruhig schreiben. Die Laboruntersuchung in der Rechtsmedizin hat zu dem Ergebnis geführt, dass die auf dem Mantel der Toten vorgefundenen Spermareste identisch sind mit denen, die auch in den achtzehn vorangegangenen ähnlichen Fällen gefunden wurden.«
»Ähnliche Fälle? In diesen achtzehn Fällen sind die Opfer aber nicht ermordet worden!«
»Hat man bei der Laboruntersuchung denn auch herausgefunden, ob der Mord vorher oder nachher passiert ist?«, hakt Granten von BILD doch noch mal nach.
»Was meinen Sie damit? Vorher? Nachher?«
»Na ja, hat er gespritzt, bevor die Frau tot war, oder erst danach?«
Benedict blättert, nach außen hin stoisch, in seinem Notizbuch herum. Stüchow, mit seinem üblichen Messermund, blickt starr vor sich auf den Tisch.
»Nein. So weit gingen die Untersuchungen nicht. Dürfte wohl auch ziemlich schwer festzustellen sein«, sagt Benedict schließlich. »Warum? Ist das denn so wichtig für Sie?«
Bevor der BILD-Mann antworten kann, nimmt ihm ein boshafter Kollege von der Konkurrenz die Arbeit ab. »Wegen des Super-Aufmachers: Düsseldorfer Frauen in Todesangst: Vom Leichenwichser gejagt!«
Die Zeitungsherrenrunde gröhlt und klatscht sich auf die Schenkel, Benedict stockt für einen Augenblick der Atem, und er fragt sich, ob diese Meinungsclowns da vor ihm genauso reagiert hätten, wenn die Kommissarin Leiden-Oster statt seiner hier säße. In die immer noch lärmende Unruhe hinein versucht er, etwas zu sagen, aber die Stimme kippt ihm um, und heraus kommt ein verunglücktes Kiecksen. Der Pressesprecher springt spontan ein. »Gibt’s sonst noch Fragen?«
»Wie weit sind die Ermittlungen?« - »Wann ist mit einer Festnahme zu rechnen?« - »Haben Sie schon einen Verdächtigen?«
Doch die Fragezeichen sind heute im Presseraum des Präsidiums nicht so scharfkantig wie sonst und lassen ihren Fleischerhakencharkter vermissen.
»Sie können schreiben, dass wir eine aussichtsreiche Spur verfolgen und dass bald mit einer Festnahme zu rechnen ist!«
Auch jetzt keine unangenehmen Nachfragen, sondern reichlich desinteressiertes Gemurmel unter den Presseleuten. Draußen auf dem Flur kündet scharrender Lärm vom Herannahen einer größeren Menschengruppe, dann geht die Tür auf, und angeführt von den beiden Einsatzleitern des morgigen Tages und einem Beamten der Sicherungsgruppe Bonn strömen Fotografen, Reporter und Kameraleute von RTL plus, SAT 1 und WEST 3 in den plötzlich zu kleinen Presseraum.
Vitus H. Benedict erhebt sich von seinem Platz neben Stüchow, murmelt irgendetwas Abschiedsartiges und geht hinauf in den zweiten Stock.
Das 1. Kommissariat macht den Eindruck einer ganz normal funktionierenden Dienststelle. Die Ermittlungen, die sich mit dem Tod der jungen Frau am Rheinufer befassen, scheinen auf vollen Touren zu laufen. Noch am Sonntagmittag nahm die sofort gebildete Sonderkommission ihre Arbeit auf. Der Staatsanwalt der Sonntagsbereitschaft kam wenig später, noch mit Kuchenkrümeln in den Mundwinkeln, ins Präsidium gehetzt.
Benedict ordnete als Leiter der Kommission die sofortige Rückversetzung der Kommissarin Leiden-Oster vom 2. in das 1. K an und forderte drei weitere Beamte von der Sitte für die Sonderkommission an. Es war eine rein gefühlsmäßige Entscheidung, denn zu diesem Zeitpunkt lagen die Analysen des Labors noch gar nicht im Präsidium vor.
Als am Montag dann die Untersuchungsergebnisse der Laborspezialisten auf eine Täteridentität zu den 18 sogenannten >Spritzer<-Fällen hindeuteten, legitimierte sich Benedicts Entscheidung, und die Sonderkommission hatte ihren Spottnamen weg: die SpriKo.
Die Auswertung des Tatortfundberichtes, die Doemges noch am Sonntag angefertigt hatte, ergab im Wesentlichen, dass die Leiche der jungen Frau von zwei Arbeitern der städtischen Müllabfuhr am Sonntag gegen 7 Uhr morgens entdeckt worden war. Die beiden Arbeiter gehörten zu einer Schicht, die auf beiden Seiten des Rheins die Abfallreste des vorabendlichen Schauspieles beseitigen sollten. Sie informierten die Polizei über ihren Schichtleiter.
Die Umgebung des Fundortes war von den Fußspuren vieler tausend nächtlicher Heimkehrer übersät. Der in der Nacht zum Sonntag einsetzende Regen hatte alles weitere besorgt. Allerdings wiesen abgebrochene Zweige im Buschwerk darauf hin, dass die Leiche der Frau von einem Platz neben einem größeren Busch etwas weiter in das Gestrüpp hineingeschleift