Joe überlegte, welchen Karton er zuerst auspacken sollte. Vielleicht die Comics? Oder die Bücher? Oder sollte er mit seiner Star-Wars-Sammlung beginnen …
TOCK – TOCK – TOCK!
Er zuckte zusammen. Was war das?
TOCK – TOCK – TOCK!
Klang wie das Schlagen auf etwas Festes, vielleicht Stein. Machte sich da etwa jemand an der Friedhofsmauer zu schaffen? Oder hämmerte an einem der Grabsteine herum?
Joe ging zum Fenster, doch er konnte keine Menschenseele entdecken. Vielleicht hatte er sich das Klopfen nur eingebildet?
TOCK – TOCK – TOCK!
Nein, da war es wieder. Und es kam auch nicht von draußen, sondern von der Wand. Joe schlich zwischen zwei Kartonstapeln hindurch und legte sein Ohr gegen die frisch gestrichene Tapete. Da war etwas, ganz leise nur. Eine Art Schaben. Joe presste das Ohr fester an die Tapete. Ein paar Sekunden lang war alles still, dann ertönte das Rascheln und Schaben erneut. Es klang, als würde sich etwas durch die Wände schieben. Joe wich zurück und starrte ungläubig die Tapete an, die sich plötzlich nach außen wölbte, als würde sich ein gewaltiger Körper von innen gegen sie stemmen. Und dann …
RITSCH – RUMS!
… riss ein koffergroßes Stück Tapete aus der Wand und krachte auf den Boden. Staub wirbelte auf. Eine Hand wedelte in ihm herum, begleitet von Husten; einem Husten, der Joe bekannt vorkam. Er ging in die Knie. In der Wand prangte ein gezacktes Loch. Und in dem Loch hockte Rebecca.
»Was machst du da?«, fragte Joe entsetzt.
»Ich habe einen Geheimgang gefunden«, erwiderte seine Schwester und hustete erneut. »Führt von meinem Zimmer direkt zu deinem. Aber das ist noch nicht alles.«
»Rebecca? Joe?« Das war Dads Stimme. »Alles in Ordnung? Was hat denn da so gerumst?«
»Rebecca…«, rief Joe, doch seine Schwester legte den Finger auf ihre Lippen.
»Da ist noch ein anderer Gang«, flüsterte sie. »Wir finden raus, wohin er führt. Los, komm!«
Damit drehte sie sich um und verschwand in der Dunkelheit. Joe starrte ihr unschlüssig nach.
»Was ist mit Rebecca?«, rief Dad von unten.
»Nichts!«, rief Joe zurück. »Alles in Ordnung. Es ist bloß ein Karton umgefallen.« Er lauschte, und als sich sein Vater mit dieser Antwort offenbar zufriedengab und zurück in sein neues Arbeitszimmer ging, stieg Joe vorsichtig durch das Loch in die Dunkelheit und ließ sich in dem niedrigen Gang auf Hände und Knie fallen. Vorsichtig kroch er Rebecca hinterher.
Rebecca?« Es war stockdunkel in dem niedrigen Schacht. Joe konnte die Hand nicht vor den Augen sehen. Hätte er doch bloß eine Taschenlampe mitgenommen. »Rebecca, wo steckst du?«
»HIER!«
Joe schreckte auf und – BONG! – knallte mit dem Kopf gegen die Schachtdecke. Rebeccas Stimme war direkt vor ihm.
»Aua, verdammt!«, fluchte er. »Was soll denn das?«
»Ich antworte doch nur«, erwiderte seine Schwester unschuldig.
»Du hast mich erschreckt«, sagte Joe und rieb sich den Kopf. »Wir müssen zurück und eine Taschenlampe holen. Sonst sehen wir weder, wie es weitergeht, noch finden wir zurück.«
Ein grelles Licht flammte auf – direkt vor seinen Augen. Erschrocken fuhr Joe hoch und – BONG! – stieß sich erneut den Kopf.
»Mann, du kannst auch einfach sagen, dass du eine Taschenlampe hast …«
»Willst du meckern oder mitkommen?«, fragte Rebecca.
»Natürlich komme ich mit«, sagte Joe und zog seiner Schwester mit einer raschen Bewegung die Lampe aus der Hand. »Aber ich gehe voran.«
»Hey!«, rief Rebecca.
»Nix hey.« Er zwängte sich an ihr vorbei. Missmutig folgte Rebecca ihm.
Der Gang führte erst eine Weile geradeaus und knickte dann im rechten Winkel ab. Nach ein paar Metern endete er an einem Loch, in das eine Leiter hinabführte. Joe leuchtete mit der Taschenlampe hinunter.
»Sieht ganz schön tief aus«, murmelte er. »Was wohl da unten ist?«
»Finden wir es heraus«, sagte Rebecca unternehmungslustig und sich an ihrem Bruder vorbeizudrängeln. Aber Joe hielt sie zurück. »Was, wenn der Gang in der Kanalisation endet? Oder in irgendeiner verseuchten Grube? Vielleicht wurden hier früher Abfälle runtergeworfen und da unten wimmelt es jetzt von Ratten und Käfern und fetten Würmern.«
Rebecca schnupperte. »Also ich riech nichts. Und es würde ja wohl stinken, wenn da unten eine Müllhalde wäre. Also los: Klettern wir runter und sehen nach.«
»Und wenn ein gefährliches Tier da unten lauert? Ein tollwütiger Hund oder eine giftige Schlange?«
Rebeccas Gesicht verfinsterte sich. »Hast du etwa Schiss?«
Joe schnaubte. »Ich? Schiss? Pah!« Er nahm die Taschenlampe zwischen die Zähne, packte die Leiter und betrat die erste Stufe. »Chich checher chochan.«
»Aye, aye, Captain«, sagte Rebecca und deutete mit der Hand einen militärischen Gruß an.
Die Leiter führte senkrecht hinab und Joe fragte sich, hinter welcher Wand im Haus sie sich gerade befanden. Denn es war klar, dass der Schacht, den er und Rebecca hinabkletterten, innerhalb der Gebäudemauern liegen musste. Aber so dicke Mauern hatte ein Haus eigentlich gar nicht. Allerdings war ihre neue Heimat nur von innen aufgefrischt worden, von außen sah das Haus noch genauso aus wie vor hundert Jahren. Und wer weiß, wie die Leute damals gebaut hatten. Möglicherweise lag der Schacht hinter dem halbrunden Fassadenteil an der Vorderseite, den Joe für einen alten Kaminschacht gehalten hatte. Aber wieso führte überhaupt ein Gang durch das Haus? Wer hatte ihn angelegt und wozu? Dass er sich nicht von Anfang an im Mauerwerk befunden hatte, erkannte man daran, wie der Gang angelegt worden war: Er war uneben und führte durch verschiedene Materialschichten, von Mörtel über Backstein bis zu Holz. Hätten die Erbauer des Hauses vorgehabt, einen versteckten Schacht zu bauen, hätten sie das schon während der Planungsphase berücksichtigt. Dieser Gang war ganz offensichtlich im Nachhinein gegraben worden. Die Frage war nur: Wozu?
Nach ein paar Metern erreichten sie den Boden.
»Staubtrocken«, stellte Joe fest, als er den Grund mit der Taschenlampe ableuchtete.
Rebecca grinste. »Sag ich doch.«
»Und wo geht’s jetzt weiter?« Joe tastete mit der Lampe die Umgebung ab. Der Tunnel war hoch genug, dass sie bequem in ihm stehen konnten. Er erstreckte sich zu beiden Seiten.
»Da lang«, sagte Rebecca und zeigte nach links.
»Wieso?«, fragte Joe.
»Wieso nicht?« Seine Schwester zuckte mit den Achseln. Joe seufzte. »Also gut.«
Der Tunnel führte ein paar Meter geradeaus, knickte dann zur Seite ab und endete an einer Geröllwand.
»Endstation«, kommentierte Joe. »Sieht aus, als wäre der Gang hier eingestürzt.«
»Nehmen wir halt die andere Richtung«, schlug Rebecca vor. Sie gingen zurück, passierten