»Jetzt ist aber Schluss, Jonathan«, sagte sein Vater streng. »Ihr habt das Haus noch nicht mal gesehen und seid schon am Meckern!«
»Ich nicht«, widersprach Rebecca.
»Du findest es also auch romantisch?«, fragte Mom.
»Aber ja«, erwiderte Rebecca. »Genauso romantisch wie die Toten, die da drüben in ihren Gräbern liegen und vermodern.«
Da konnte sich auch Joe das Grinsen nicht verkneifen.
Das Haus mit der Nummer achtzehn passte sich in das Straßenbild perfekt ein. Efeuranken wanden sich an der dunklen Fassade bis in den ersten Stock empor und aus dem schrägen Dach reckte sich ein Backstein-Schornstein in den Himmel. Ein halbrundes Fassadenteil führte vom Grund bis unters Dach und beherbergte vermutlich einen Kaminschacht. Die mit Fensterkreuzen versehenen Scheiben waren hoch und schmal und erinnerten Joe an einen Film über das vergangene Jahrhundert, den er mal im Fernsehen gesehen hatte. Dort hatte es ein Haus mit ganz ähnlichen Fenstern gegeben, aus denen sich reihenweise Leute in den Tod gestürzt hatten.
Eine verwitterte Holztreppe führte über eine schmale Veranda zu einer massiven Tür, an der ein schwerer bronzefarbener Türklopfer in Form einer Drachenklaue befestigt war. Der von der Straße durch eine Hecke abgetrennte Garten war etwas verwildert. Vor dem Haus stand eine knorrige Eiche, die das Dach des einstöckigen Gebäudes um einiges überragte.
Jack Bookman lenkte den Wagen in die Parkbucht neben dem Eingangsbereich und die Familie stieg aus. Die Fahrt von Bristol nach London hatte zwar nur knapp drei Stunden gedauert, aber bei der sommerlichen Hitze war es im Kombi zunehmend ungemütlich geworden, zumal dummerweise auch noch die Klimaanlage vor ein paar Tagen ausgefallen war und die Werkstatt sie auf die Schnelle nicht mehr hatte reparieren können. Joe war verschwitzt und müde.
»Und?«, fragte Sara Bookman, als ihre Kinder das Haus in Augenschein nahmen. »Was sagt ihr dazu?«
»Sieht groß aus«, stellte Rebecca anerkennend fest. »Aber wenn es innen genauso alt ist wie außen …«
»Aber nein«, lachte Dad und ließ die Tür des Kombis ins Schloss fallen. »Innen drin ist alles frisch renoviert und tipptopp. Mom und ich haben die Außenfassade nur so gelassen, weil wir sie so schön finden. Hat doch ein bisschen was von einem verwunschenen Schloss, oder, Darling?« Er legte den Arm um die Taille seiner Frau und betrachtete zufrieden ihr neues Zuhause.
Joe wandte sich ab und sah die Straße hinauf. Ganz am Ende stand ein einzelnes Haus, das von einem schmiedeeisernen hohen Zaun umgeben war. Es wirkte um einiges größer als die anderen Villen der Straße und noch viel älter – als hätte es nicht bloß hundert, sondern mindestens schon dreihundert Jahre auf dem Buckel.
»Und wer wohnt dahinten?«, fragte er. »Graf Dracula?«
»Ein Junge, soweit ich weiß«, antwortete seine Mutter und wuschelte Joe über den Kopf.
»Ein Junge?«, fragte Rebecca neugierig. »Mit seinen Eltern?«
Sara Bookman zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nur von einem Jungen. Sonst nichts.«
»Das könnt ihr alles in den kommenden Tagen herausfinden«, sagte Dad und klatschte in die Hände. »Jetzt gehen wir erst einmal rein und sehen uns unser neues Zuhause an. Auf geht’s!« Er sprintete über die Treppe auf die Veranda und öffnete die Tür. »Hereinspaziert!«, rief er wie ein Zirkusdirektor und verschwand im Inneren. Joe verdrehte die Augen, bevor er seiner Mutter und Rebecca folgte.
Das Haus war nicht so schlecht, wie Joe es nach den Erzählungen seiner Eltern befürchtet hatte. Im Erdgeschoss öffnete sich hinter einer schmalen Diele ein geräumiges Wohnzimmer, an das sich eine großzügige Küche anschloss. Hinter der Küche führte ein kleiner Flur zu einem weiteren Raum, den Dad als Arbeitszimmer in Beschlag genommen hatte. Als Schriftsteller arbeitete Jack Bookman zu Hause und brauchte einen Ort, an dem er ungestört schreiben konnte.
Im ersten Stock waren das Schlafzimmer der Eltern, ein Gästezimmer und die beiden aneinandergrenzenden Kinderzimmer untergebracht. Das stellte eine handfeste Verbesserung dar, musste Joe zugeben, denn in der alten Wohnung hatten er und Rebecca sich ein Zimmer teilen müssen, was ihm zunehmend auf die Nerven gegangen war. Schließlich waren sie keine Kleinkinder mehr. Joe war gerade dreizehn geworden, seine Schwester war fast genau ein Jahr jünger. Es war gut, dass jetzt jeder sein eigenes Zimmer bekam, fand Joe. Auch, wenn man aus seinem direkt auf den gegenüberliegenden Friedhof sah.
»Warum müssen wir überhaupt umziehen«, hatte er seine Eltern in den vergangenen Wochen immer wieder gefragt. »Mom kann doch pendeln! Machen andere Eltern auch.«
Seine Mutter hatte einen neuen Job als Anwältin in einer Kanzlei gefunden. Allerdings nicht in Bristol, wo sie gewohnt hatten, sondern in London, rund zweihundert Kilometer entfernt.
»Täglich vierhundert Kilometer fahren ist zu teuer und zu anstrengend«, hatte Dad erklärt. »Die andere Möglichkeit ist, dass Mom nur noch am Wochenende nach Hause kommt. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass du und deine Schwester das gut finden würden.«
Das leuchtete Joe natürlich ein. Trotzdem war es ihm schwergefallen, Abschied von seiner alten Umgebung und von seinen Freunden zu nehmen.
Nachdem Joe einen Blick aus dem Fenster geworfen hatte, sah er sich in seinem neuen Zimmer um. Im Moment herrschte noch ein ziemliches Durcheinander. Die Umzugshelfer hatten nur das Bett, ein Bücherregal und einen Kleiderschrank an ihre Plätze gestellt. Der Rest war noch in zahlreichen Kartons verpackt. Trotzdem war Joe überrascht, wie groß und hell der Raum wirkte. Die Decke war mindestens drei Meter hoch und rundherum mit Stuck verziert. Die großen Fenster saugten die Sonnenstrahlen förmlich in den Raum hinein und fluteten ihn mit strahlendem Licht. So ein Zimmer hatte er nicht erwartet. Joe lächelte.
»Und?«, fragte Dad, der den Kopf zur Tür hereinsteckte. »Zufrieden?«
Joe nickte. »Das Zimmer ist riesig. Und alles ist neu!«
»Wir haben es weiß streichen lassen, damit es noch größer wirkt«, erklärte sein Vater. »Und den Baum vor dem Fenster haben wir an der Seite etwas stutzen lassen, damit mehr Licht hereinkommt.« Er bahnte sich einen Weg zwischen den Kartons hindurch zu einem der Fenster und sah hinaus. Joe folgte ihm. »Ist das nicht ein toller Ausblick?«
Erst jetzt nahm Joe bewusst wahr, dass Howard’s End an einem Abhang lag. Jenseits der Backsteinmauer fiel der Friedhof terrassenförmig ab. Weit dahinter sah man das Wasser der Themse silbern in der Abendsonne leuchten. Doch Joes Blick blieb an den dunklen Grabsteinreihen hängen.
»Und was ist mit dem Friedhof?«, fragte er.
»Was soll damit sein?«
»Er sieht etwas … bedrohlich aus.« Joe schluckte. »Und wenn ich mir überlege, dass dort überall Leichen rumliegen.«
»Irgendwo müssen die Toten ja begraben werden«, sagte Dad schulterzuckend.
»Ja, aber warum ausgerechnet hier, wo wir wohnen?«
»Der Friedhof war vor uns da«, erklärte Jack Bookman und schlenderte wieder zur Tür. »Und an Toten ist eigentlich nicht Unheimliches. Jeder von uns stirbt irgendwann. So ist das nun einmal.« Er warf Joe ein Lächeln zu. »Aber du brauchst keine Angst zu haben, Jonathan, es gibt keine Zombies oder Untoten, die sich dort drüben herumtreiben. Wer tot ist, wird begraben, und das war’s. Ende der Geschichte.« Damit verließ er das Zimmer.
Na hoffentlich, dachte Joe und drehte sich wieder zum Fenster. Unten auf der Straße holperte eine schwarze Limousine vorüber. Die Scheiben waren getönt, sodass man nicht sehen konnte, wer sich darin befand. Sind sicher irgendwelche halbadeligen Friedhofsbesucher, dachte Joe, die keine Lust haben, sich von den Leuten begaffen zu lassen.
Doch als der