„Ja, natürlich. So viel weiß ich noch“, antwortete der Arzt.
Hier schaltete sich Fabienne ein.
„Wir haben eine ganze Ampulle gespritzt!“ Sie sprach leise, und erst nachdem sie sich versichert hatte, dass niemand aus der Umgebung mithören konnte.
Kramer erblasste.
„Was? Das gibt’s doch nicht! Ich habe doch ausdrücklich nur eine halbe Ampulle verschrieben“, versetzte er in ungewohnt lautem Ton.
Die Schwestern schwiegen und schauten zu Boden.
Der Anästhesiearzt war völlig aufgewühlt und bemühte sich um Fassung, schien aber innerlich zu hadern.
„Wozu machen wir diese peinlich genauen Verordnungen und füllen unzählige Blätter aus, wenn am Schluss alles anders gemacht wird?“
Schweigen.
Der Anästhesiearzt dachte angestrengt nach. Dabei blieb er regungslos stehen, nur seine Unterlippe bewegte sich andeutungsweise.
„Alles wird dadurch noch viel schlimmer. Wir fühlen uns so schlecht, so … schuldig. Ein solch schwerwiegender!“, brach Fabienne das unerträgliche Schweigen.
„Nachdem die erste Dosis Mezalgin nichts genützt hat, meinte Schwester Regula es sei eine ganze Ampulle Dolofug nötig.“
„Ich fasse es nicht“, entrüstete sich Kramer und wandte sich ab. Langsam, Schritt für Schritt, lief er den langen Spitalgang entlang, und die Schwestern schauten ihm nach.
Am liebsten wäre Sarah im Boden versunken.
„Wenigstens ist es jetzt raus. Wir haben die Wahrheit gesagt. Gehen wir nun an unsere Arbeit“, meinte Fabienne.
„Du willst der Wahrheit jetzt einfach den Rücken zukehren?“, fragte Sarah.
„Was willst du denn?“, entgegnete Fabienne eine Spur lauter als gewohnt. „Nur rumstehen und warten bis sie dich auffrisst?“
„Es geht mir alles ein bisschen zu schnell, aber ich bin es gewohnt, der Wahrheit in die Augen zu schauen“, meinte Sarah nun beinahe entschuldigend.
Da ertönte ein kurzer Piepston. Ein Patient hatte die Glocke betätigt. Fabienne und Sarah schauten beide auf den Gang und entdeckten, es war das Zweierzimmer neben Céline. Einer von Sarahs Patienten. Eine Spitalgehilfin war schon unterwegs.
„Ich übernehme das“, beeilte sich Sarah. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, da sie bisher noch kaum etwas getan hatte. Der bettlägerige Patient benötigte die Urinflasche. Welch eine einfache Aufgabe!
Termin beim Chef
Schleppend setzte sich der Tag fort. Ich arbeitete fast wie in Trance und musste mir ab und zu wieder einen Anstoß geben, mich zu konzentrieren. Ich funktionierte, wusste aber, eine weitere Komplikation hätte mich vollständig aus der Bahn geworfen.
Natürlich hatte sich alles wieder im Nu herumgesprochen, und die Kollegen wollten Details wissen. Immer wieder musste ich dieselben Fragen beantworten. Nur meine Oberärzte zeigten wenig Interesse, doch von ihnen erwartete ich auch keinen Rückhalt.
Chefarzt Professor Rossi, den ich sonst selten zu sehen bekam, ließ mich in sein Büro rufen. Ich war gespannt und sehr nervös. Schließlich wusste man ja nie, was auf einem zukam, wenn man zum Chef gerufen wurde.
Der kleingewachsene, kahlköpfige Rossi sah sich das Narkoseprotokoll und die Akten an und meinte nach ein paar ergänzenden Fragen: „Sehr tragischer Fall. Wirklich. Kommt extrem selten vor so was. Aber kein Kunstfehler, normaler Verlauf der Operation, intraoperativ normale Dosis intravenöser Opiate. Ja, das nennt man silent death, diesen Reboundeffekt.
Die intravenös verabreichten Opiate gelangen wieder in den Kreislauf, da sie im Magen-Darm erneut resorbiert werden und so die Atemdepression verstärken. Nun, es gibt noch andere Theorien, aber lassen wir das. Danach genügt eine zusätzliche atemdämpfende Komponente – in diesem Fall die postoperativen Schmerzmittel, das Dolofug – und die Atmung kann dann mal ganz zum Erliegen kommen. Ich sage ja immer wieder, wie wichtig die postoperative Überwachung ist. Die diensttuende Nachtschwester hätte die flache Atmung bemerken sollen, dann wäre die Patientin mit einer Injektion des Antagonisten Naloxon sehr wahrscheinlich noch zu retten gewesen.
Sehen Sie, auf ihrem Verordnungsblatt haben Sie zum Glück geschrieben Atem- und Kreislaufkontrolle. Sie haben somit nichts falsch gemacht. Jetzt müssen wir aber zuerst die Ergebnisse der Sektion abwarten. Sie haben sich jedenfalls nichts vorzuwerfen, Kramer.“
„Nun ja, das mag so sein, aber der Fall beschäftigt mich eben trotzdem sehr.“
„Ja natürlich, das ist auch völlig in Ordnung.“
Professor Rossi, der für einen Chefarzt ungewohnt humorvoll war, blieb erwartungsgemäß sachlich und ernst. Er wirkte aber sehr erleichtert, als er feststellen konnte, dass seine Angestellten keine Kunstfehler begangen hatten. So ganz sicher war er seiner Sache allerdings auch nicht, das spürte ich sofort.
Rossi zögerte kurz. „Warten wir mal ab, mehr können wir nicht tun“, schloss die Unterredung, die eher ein Monolog war.
Nicht viel mehr als vorher wissend, wollte ich mich verabschieden.
„Wir sehen uns ja dann am Montag wieder zur kleinen Prüfung“, hörte ich Rossi hinter mir sagen.
„Ja, natürlich. Das hier war auch schon so eine Art große Prüfung.“
Ich schaute zurück und sah, dass Rossi verständnisvoll nickte.
Danach brauchte ich unbedingt jemanden, mit dem ich über alles sprechen konnte. So verabredete ich mich mit Walker im Assistentenzimmer, das zu dieser Zeit meist leer war. Ich erzählte ihm die Tragödie, allerdings ohne zu erwähnen, dass ich nur die halbe Ampulle verordnet hatte.
Sein Gesicht wurde immer nachdenklicher, er sagte dasselbe wie die anderen und versuchte etwas Trost zu spenden.
„Das Ganze ist ein unglücklicher Zwischenfall, aber dich trifft keine Schuld. Mach dir mal keine Sorgen“, schloss er.
„Ich mache mir nicht so sehr Sorgen wegen mir und meiner Verordnung. Der Tod meiner Patientin ist es, der mich belastet. Es ist nun mal nicht dasselbe, ob du hörst, ein junger Mensch ist im Krankenhaus gestorben oder ob du diesen Menschen selbst gekannt und betreut hast. Das ist dermaßen belastend. Das hätte ich mir vorher nie vorstellen können.“
„Sicher, das steht außer Frage. Das braucht Zeit zur Verarbeitung. Aber wenn wir damit nicht fertig werden, dann können wir unseren Beruf gleich an den Nagel hängen. Seit meinem ersten Arbeitstag spüre ich die Last der Verantwortung auf meinen Schultern. Ein Fehler von uns kann unmittelbar tödliche Folgen haben“, meinte Walker.
Ich spürte plötzlich eine starke Müdigkeit und war kaum in der Lage etwas zu sagen.
„Du wirst sehen“, fuhr Walker fort, „der Rossi wird auch aus diesem Fall wieder Kapital schlagen. Huber hat mir erzählt, dass es vor etwa sechs Jahren schon einmal so etwas Ähnliches gab, ein Todesfall während einer Notoperation. Das war eindeutig ein Fehler des Anästhesisten. Er hat den Tubus zu weit vorgeschoben, und die Patientin ist erstickt. Es kam dann zu Gerichtsverhandlungen, die Medien schlachteten die Situation nach Strich und Faden aus. Schließlich wurde der beteiligte junge Narkosearzt zwar freigesprochen, doch der Makel blieb an ihm haften, ebenso an der Klinik. Professor Rossi hat dann bei der Spitalleitung mehr Personal beantragt und es schließlich auch bekommen.
Seine Argumentation: mehr Ärzte, weniger Fehler überzeugte. Aber eben, wie gesagt, da lag ein eindeutiger Fehler vor und der Assistenzarzt wurde trotzdem freigesprochen. Du hast nichts falsch gemacht, also kann dir rein gar nichts passieren“, sprach Walker, klopfte mir auf die Schulter und stand auf.
Seine Schilderung von Gerichtsprozessen wirkte auf mich wenig ermutigend.
„So,