Ein eiskalter Schauder lief Sarah über den Rücken. Doch sie hielt dem Blick der Abteilungsschwester stand.
„Wie soll ich das verstehen?“, sie reagierte wie ein verletztes Raubtier und hatte den forschen Ton ihrer Vorgesetzten angenommen.
Schwester Regula schien dadurch ihrerseits etwas in die Defensive getrieben und räusperte sich.
„In Zukunft melden Sie mir Ihre Beobachtungen, wenn sie wichtig sind. Und ein möglicher bevorstehender Tod ist ein wichtiges Ereignis.“
Sarah ließ nicht locker: „Wie hätte ich denn dieses Ereignis verhindern können?“
„Es trifft Sie keine direkte Schuld. Mit etwas mehr Routine werden Sie eben spüren, wenn das Ende kommt und dann beim Patienten sein, wenn es darauf ankommt. Aber gehen Sie jetzt nach Hause.“, damit wandte sich die Abteilungsschwester ab.
Fabienne begleitete Sarah auf dem Nachhauseweg und tröstete sie.
„Mir geht es doch auch nicht besser. Seit diesem Ereignis ist Schwester Regula auch mir gegenüber völlig verändert. Nichts kann ich ihr mehr recht machen, und sie schikaniert mich ständig. Ich kann so nicht mehr weiterarbeiten. Ich muss mich mal nach einer neuen Stelle umschauen. Wenn du deine Lehre beendet hast, kommst du eben auch dorthin.“
Sarah erschrak zunächst, verstand Fabienne aber durchaus.
„Ich bin doch auch froh, wenn das Chirurgie-Praktikum zu Ende ist. Ich habe einfach Angst, dass Schwester Regula eine schlechte Beurteilung über mich schreibt. Wegen dieser Todesengelbemerkung muss ich morgen nochmals mit ihr reden.“
Fabienne schüttelte entschieden den Kopf.
„Das würde ich eben nicht tun. Damit wird sie erst recht in die Enge getrieben und du weißt nicht, wie sie dann reagiert. Womöglich erreichst du das Gegenteil.“
„Du meinst, ich soll mir einfach alles gefallen lassen?“, fragte Sarah, leicht erstaunt über diese Aussage.
„Nein, ich werde mit Regula sprechen.“
Und es dauerte nur wenige Tage, da fand Fabienne einen günstigen Zeitpunkt für diese Unterredung. Sarah war gespannt, wie auf die letzte Seite in einem Kriminalroman. Was ihre Freundin danach wohl erzählen würde?
Um ungestört plaudern zu können, lud Fabienne ihre Kollegin zu sich nach Hause ein. Fabienne wohnte im Zentrum von Zürich, nahe dem Central an der Stampfenbachstraße in einem alten Haus im dritten Stock. Zu Fuß war das Universitätsstpital in nur zehn Minuten zu erreichen. Solche Wohnungen waren sehr begehrt. Ein Patient hatte Fabienne diese Wohnung vermittelt.
Als Sarah eintraf, war bereits ein einladendes Abendessen angerichtet. Da Fabienne über Mittag durchgearbeitet hatte – die Schwestern nannten es die ‚Patienten hüten‘ – konnte sie nachmittags früher nach Hause und alles vorbereiten.
Fabienne begrüßte ihren Gast in großen rosa Hausschuhen aus Plüsch.
„Setz dich doch gleich. Ich will dich nicht lange auf die Folter spannen“, sagte sie und servierte ohne zu fragen zwei Gläser Orangensaft. Sie wusste, Sarah liebte Fruchtsaft und zog dies alkoholischen Getränken bei weitem vor.
„Das alles hat überhaupt nichts gebracht“, begann die Gastgeberin kopfschüttelnd und trank ungewohnt hastig einen Schluck Orangensaft. „Regula hat einfach auf stur gestellt und wollte nichts von dem, was ich sagte, wahrhaben. Sie hat alles schöngeredet. Sie meinte, sie behandle alle Schwestern gleich. Das sei schon immer ihre Devise gewesen. Wir würden uns das alles nur einbilden, auch die Sache mit der Bemerkung über dich als Todesengel, das sei überhaupt nicht so gemeint gewesen, sondern eine gängige, zugegebenermaßen überflüssige, Redensart in solchen Fällen. Ich bin dann schon etwas in Fahrt gekommen und habe gesagt, ich könne es mir längerfristig nicht vorstellen, weiter auf dieser Station zu arbeiten.“
Sarah nickte. Sie hatte insgeheim damit gerechnet, dass dieses Gespräch mit Schwester Regula zu keinem Ergebnis führen würde.
„Und wie hat sie darauf reagiert?“
„Sie fiel aus allen Wolken und wollte mir das ausreden. Immer wieder hat sie erwähnt, wie zufrieden sie mit meiner Arbeit sei, dass sie nicht auf mich verzichten könne und so weiter. Schließlich habe ich mich überreden lassen noch bis Ende Jahr zu bleiben. Dann aber …“, Fabienne atmete tief ein und schaute Sarah eindringlich an, „… dann aber, habe ich sie gefragt, und zwar ganz spontan und sachlich: Können wir über diese Schmerzmittel-Verordnung sprechen, die zum Tode von Céline Jaquet geführt hat? Du hättest sehen sollen, wie unserer Abteilungsschwester alle Farbe aus dem Gesicht fiel, so habe ich sie noch nie gesehen. Und weißt du, was sie gesagt hat?“
Sarah schüttelte den Kopf und biss sich sanft auf die Unterlippe.
„Nun erzähl schon weiter“, forderte sie, denn sie hielt es vor Spannung nicht mehr aus.
Fabienne versuchte, Regulas manchmal kindlich unschuldig anmutende Stimme nachzuahmen: „Natürlich können wir über alles sprechen, meinte sie und tat so, als ginge es um die Organisation eines Grillabends. Das sei ein tragischer Fall gewesen, der alle auf der Station sehr mitgenommen hätte, erklärte sie wortreich. Sie sprach und sprach, ohne wirklich etwas zu sagen. Als ich sie dann konkret fragte, warum sie unbedingt eine ganze Ampulle spritzen wollte, meinte sie – und ich sage es dir wortwörtlich: Sie habe nicht darauf bestanden eine ganze Ampulle zu spritzen. Sie habe nur gesagt, man hätte eine halbe Ampulle dieses Schmerzmittel schon viel eher verabreichen sollen, dann wären die starken Schmerzen rascher gewichen und man hätte die Möglichkeit gehabt, vier Stunden später nochmals eine weitere halbe Ampulle zu spritzen. Weil nach solchen Operationen eben schon meistens eine ganze Ampulle Dolofug nötig sei, natürlich in diesem Fall auf zwei Einzeldosen verteilt, mit entsprechendem Abstand dazwischen, so hätte sie das gesagt und so hätte auch die ärztliche Verordnung gelautet. Aber es sei ihr natürlich völlig klar, dass wir Schwestern das vielleicht nicht mehr so genau in Erinnerung hätten.“
Sarah stockte fast der Atem.
„Das ist eine Lüge! Wie hast du darauf reagiert?“, stieß sie entrüstet hervor.
„Nun, was soll ich da noch sagen?“, Fabienne zuckte mit den Schultern. „Ich habe deutlich gemacht, dass ich es ganz anders in Erinnerung hätte. Gutmütig meinte Schwester Regula, es sei ja schon eine Weile her. Doch darüber zu reden hielte sie für wichtig, solche Ereignisse sollten nicht einfach verdrängt werden. Ausgerechnet die sagt das! Ein klassisches Eigentor!“
„Das ist einfach unglaublich“, sagte Sarah, „ich fass‘ es nicht. Früher habe ich mal so etwas wie Bewunderung für sie empfunden.“
„Na ja, entweder leidet sie an Gedächtnisschwund, oder sie hat sich ihre eigene Version zurechtgezimmert, eine, mit der sie am besten leben kann. Auch ich habe mich in ihr stark getäuscht.“
Sarah dachte eine Weile nach, während Fabienne den Tisch deckte.
„Ich habe mal gelesen“, nahm Sarah den Faden wieder auf, „dass unsere Erinnerungen wie Bleistiftnotizen auf einem Zettel sind und wir manchmal diese Aufzeichnungen teilweise wieder ausradieren und mit Einträgen ergänzen oder ersetzen, die uns besser ins Konzept passen. So ist die Wahrheit für uns eben subjektiv. Dieses Bild würde bei Schwester Regula wirklich passen.“
„Sie hat nicht nur radiert und ergänzt, sie hat den Zettel umgedreht und ganz neu beschrieben“, meinte Fabienne und drehte dabei den Teller um, den sie in der Hand hielt um
„Ja, sie sieht nur noch die Rückseite der Wahrheit! Doch ihr Unterbewusstsein kennt die Vorderseite. Dieser Widerspruch macht sie krank!“, erklärte Sarah.
Fabienne holte nach dieser verbalen, schwer verdaulichen Vorspeise Salat und Spaghetti aus der Küche.
„Für mich ist jetzt endgültig klar, dass ich in einer anderen Klinik arbeiten muss“, bemerkte sie entschlossen und platzierte die Schüsseln auf dem Tisch.
„Aber vielleicht werden wir zur Rechenschaft