„Ihr wohnt hier wirklich an einem herrlichen Ort, und alles ist so hell und großzügig bemessen. Wirklich schön habt ihr es hier. Da muss es einem einfach gefallen“, versuchte ich sie aus der Reserve zu locken.
„Ja, doch“, war Nicoles Antwort. Ihre Gesichtszüge blieben ohne Regungen und sofort schweifte ihr Blick wieder zu Thomas Walker. Immerhin schon zwei Silben, dachte ich.
„Schlage vor, wir schauen uns zuerst mal die Wohnung an“, meinte Walker.
Unablässig kommentierend schritt er voran, und Nicole folgte ihm auf dem Fuß. Arbeitszimmer, Badezimmer, ja selbst das Schlafzimmer führte er mir vor, danach die Küche, natürlich mit allen vorstellbaren Extras. Schließlich gelangten wir zum Prunkstück der ganzen Wohnung, dem dreigegliederten Salon, der mich spontan an Versailles erinnerte. Beeindruckend war der Boden aus blitzblankem antikem, aber perfekt gepflegtem Parkett. Der erste, größte Teil des Salons, das eigentliche Wohnzimmer, bestand aus einer Sitzgruppe mit luxuriösem Überzug, in der Mitte ein großer Mahagonitisch. Eine Unzahl von Leuchten und Lampen auf kleinen Beistelltischchen erleuchteten den großflächigen Raum und verliehen ihm ein stilvolles Ambiente. Alles passte hier zusammen, für mich war dies allerdings eine Spur zu perfekt und zu aufgeräumt, beinahe überästhetisch.
Verglichen mit meiner Wohnung war das eine andere Liga. Doch ich fand mein zu Hause, trotz kreativem Chaos, gemütlicher.
Gegen Süd-Osten gelangte man vom Salon zum gedeckten Balkon, einem Wintergarten. Riesige Blumentöpfe mit Palmen standen dicht beisammen. Nach Süden hin wies der Raum eine durchgehende langgezogene Fensterfront auf mit einer wunderschönen Aussicht auf Zürich. An der gegenüberliegenden Wand hingen Ölbilder mit Schweizer Landschaften.
Ein kleines Mäuerchen ragte halb in den Raum und grenzte das Wohnzimmer vom Esszimmer ab. Dieser Raum wurde von einem riesigen Tisch aus massivem Holz angemessen ausgefüllt. Die Anzahl der Stühle reichte selbst für größere Einladungen. Auf dem länglichen Holztisch standen ein silberner Kerzenständer, eine Fruchtschale sowie ein Blumenstrauß. Es wirkte wie ein altmeisterlich arrangiertes Stillleben.
Der dritte Teil des Salons wurde abermals von einer Wand, die halb in den Raum ragte abgetrennt. Dort befand sich ein weiteres Arbeitszimmer.
Wir begaben uns zurück zur Sitzgruppe.
„Wirklich eine wunderschöne Wohnung. Mich beeindrucken Symmetrie und Proportionen. Sicher hast du das so stilvoll eingerichtet Nicole, nicht wahr?“, wollte ich sie zum Reden bringen.
„Ja danke, wir fühlen uns auch wohl hier. Tomi hat ja auch so viel selbst renoviert.“
„Das sah hier vor einem Jahr noch ganz anders aus“, ergänzte Thomas Walker, „mit dem jetzigen Zustand ist das überhaupt nicht mehr vergleichbar“. Walker unterstrich seine Aussage, indem er seine Brauen in gewohnter Manier hochzog und eine Kunstpause einlegte.
Danach holte er etwas Weißwein aus dem Kühlschrank.
‚Es wird auch höchste Zeit‘ dachte ich.
Kurze Zeit später holte Nicole ein paar Brötchen aus der Küche. Viel Zeit schien sie allerdings nicht für die Zubereitung verschwendet zu haben.
„Ihr habt jetzt bald Ferien, wenn ich mich recht erinnere?“, fragte ich nach dem Anstoßen und schaute dabei Nicole an.
„Ja, übernächste Woche. Da freuen wir uns riesig darauf“, antwortete sie und es schien, dass ihr dieses Thema eher behagte. Ihre bisher monotone Stimme wurde etwas lebendiger. Ja, diese Stimme hatte ich schon einmal gehört, die Stimme kam mir nun zunehmend vertraut vor, aber ich konnte sie immer noch nicht einordnen.
„Wir wussten lange nicht, wohin die Reise gehen sollte“, ergänzte Walker, „wir sind beide schon an so vielen reizenden Orten gewesen. Ich habe die Malediven favorisiert, aber da Nicole schon zweimal dort gewesen ist, mussten wir eine andere Destination suchen. Nicole bevorzugt die Karibik, aber da wollte ich nicht schon wieder hin, und so haben wir uns dann nach ausgedehnten Überlegungen auf die Seychellen geeinigt. Leider nur für zehn Tage, aber immerhin.“
„Verstehe“, meinte ich teilnahmsvoll.
„Wir haben Abend für Abend Ferienprospekte studiert, bis wir unser Ziel gefunden haben“, sagte Nicole, bereits wieder mit ernster Miene.
Da konnte ich es mir dann doch nicht verkneifen: „Euer Problem wird von Jahr zu Jahr größer. Was macht ihr da bloß in Zukunft?“
„Da werden wir uns eben etwas Neues einfallen lassen!“, und Walkers Stimme klang eine Spur weniger humorvoll.
„Die Hochzeitsreise müssen wir auch mal noch nachholen, dazu sind wir leider immer noch nicht gekommen, und das soll dann etwas ganz Besonderes werden, mit mindestens drei Wochen am Stück“, ergänzte Nicole.
„Ich fahre in meinen Ferien wahrscheinlich nach Venedig, obwohl ich auch schon dort war, aber mir gefällt es so gut, dass es mich immer wieder dorthin zieht“, erzählte ich, weil meine Gastgeber nicht auf die Idee kamen, mich nach meinen Ferienplänen zu fragen.
„Ja, schön“, erwiderte Nicole. Damit war das Thema beendet.
Schließlich begannen wir dann mit dem Kernpunkt des Abends, den Vorbereitungen für die Rossiprüfung.
„Übrigens“, begann Walker, „ich habe mit der Sekretärin von Rossi gesprochen und als sie mal kurz weg musste, da habe ich einen Blick in ihre Agenda geworfen. Am Montag, dem Tag unserer Rossiprüfung, da steht groß und deutlich geschrieben: Engström organisieren. Ich denke, wir sollten den guten alten Engström-Beatmungsapparat nochmals repetieren. Du hast gesagt, dass du dich da gut auskennst.“
„Du bist mir vielleicht ein kleiner Schelm“, entgegnete ich nach kurzer Sprachlosigkeit. Solche raffinierten Spielchen hätte ich Thomas gar nicht zugetraut.
„Ja, das würde man gar nicht von ihm denken“, fügte Nicole verschmitzt an. Erstmals kehrte etwas Leben in ihre Mimik, und in diesem Moment kam es mir schlagartig in den Sinn.
„Nicole, wir kennen uns“, rief ich plötzlich aus, „ich überlege es mir schon den ganzen Abend, jetzt ist es mir eingefallen. Wir sind zusammen in Höngg zur Schule gegangen, ins Lachenzelg Schulhaus. Du warst in der Parallelklasse!“ Ich freute mich über die unerwartete Begegnung, wie ich mich immer freute, Freunde und Bekannte wieder zu treffen.
„Ja, stimmt, jetzt kann ich mich auch wieder, wenn auch schwach, an dich erinnern“, meinte Nicole ohne Gefühlsregung. Viel mehr ließ sie sich dazu nicht mehr entlocken, und diese Reaktion enttäuschte mich. Bei Nicoles mangelndem Interesse für die Vergangenheit verzichtete ich auf die Fortführung dieser Unterhaltung.
Nur Walker fand diese Begebenheit ebenfalls spannend.
„Martin hat dich wohl nicht besonders beeindruckt?“
„Seid ihr nicht zum Lernen hierhergekommen?“, blockte Nicole ab, und so wandten wir uns wieder der Anästhesie zu.
Es zeigte sich bald, dass Walker gewisse Defizite im Verständnis des Beatmungsgerätes aufwies. Ich erklärte ihm alles genau, benötigte aber einige Zeit, bis er es begriffen hatte.
Es war schon gegen halb zwölf, als er endlich sein Heureka-Erlebnis hatte.
Beruhigt trank ich mein Glas aus und verabschiedete mich.
Walker begleitete mich zur Haustüre, und noch einmal warf ich einen Blick auf das Messingschild mit dem selbstverliehenen Doktortitel. Im Gegensatz zu mir schien Walker eine Überdosis an Selbstvertrauen zu besitzen. Einerseits staunte ich über diese Eigenschaft, auf der anderen Seite fragte ich mich aber, ob er nicht doch auch gewisse Zweifel zu überspielen versuchte. Im Gespräch hielt er sich stets bedeckt, wenn ich mit ihm über meine Probleme mit der Verantwortung im Beruf zu sprechen begann.
Auf dem Nachhauseweg musste ich an Nicole denken. Schon als Kind war sie ein blasses, unscheinbares Mädchen. Schmunzeln musste ich über das Gerede zu unserer Schulzeit, wir seien ein