Die Rückseite der Wahrheit. Riccardo del Piero. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Riccardo del Piero
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783347033108
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murmelte ich und zweifelte, ob Walker mich verstanden hatte.

       Das Schweigen der Abteilungsschwester

      Sarah beobachtete ihre Abteilungsschwester weiterhin ganz genau. Schwester Regula beschränkte ihre Kommunikation auf ein Minimum. Sie wirkte sogar deprimiert. Ihre Mimik blieb rudimentär, und nicht das winzigste Lächeln huschte mehr über ihre Lippen. So erinnerte sie beinahe an eine Statue.

      Regula verlor auch kein Wort mehr über die verhängnisvolle Spritze. Wurde sie von anderer Seite auf Célines Todesfall angesprochen, reagierte sie einsilbig und wechselte rasch das Thema.

      Sarah und Fabienne fühlten sich zunehmend verunsichert und wollten das Thema wieder aufgreifen.

      „Droht uns jetzt ein Prozess wegen fahrlässiger Tötung?“, fragte Fabienne Schwester Regula in ihrer direkten Art, als sich bei Arbeitsschluss eine günstige Gelegenheit bot.

      „Ach, wo denken sie hin? Es gibt immer wieder Todesfälle. Ich habe noch nie einen Prozess erlebt. Die Suppe wird nicht so heiß gegessen.“

      „Aber im Krankenblatt steht, es wurde eine Ampulle verabreicht und in der Verordnung ist eine halbe notiert. Sie verstehen, dass ich mir da Sorgen mache, wenn das rauskommt.“

      „Aber natürlich verstehe ich Sie. Doch wenn Sie genau gelesen hätten, stand da eine halbe Ampulle alle vier bis sechs Stunden. Also hätte man innerhalb von 24 Stunden sechs Mal eine halbe Ampulle spritzen können, was insgesamt drei ganzen Ampullen entspricht, und wir haben nur eine einzige verabreicht. Die Gesamtdosis wurde bei weitem nicht erreicht, und wie mir der Oberarzt gesagt hat, kommt es darauf an. Er hat mir bestätigt, dass hier niemand einen Fehler gemacht hat und deshalb auch niemand schuldig gesprochen werden wird“, schloss Regula.

      „Na ja, ich weiß noch nicht so recht“, meinte Sarah.

      „Werden Sie denn aussagen, dass Sie uns aufgetragen haben, die doppelte Dolofugdosis zu spritzen?“, fragte Fabienne nun unmissverständlich.

      Die Abteilungsschwester wurde noch blasser.

      „Natürlich würde ich alles genau so erzählen, wie es gewesen war“, sagte sie hastig, und dabei zitterte ihr Kopf ein wenig.

      Sarah und Fabienne nickten.

      „Aber es wird nie zu einem Prozess kommen. Ihre Sorgen sind unbegründet“, fügte Schwester Regula rasch an und lief raschen Schrittes davon.

      Nach Sarahs Maßstäben zerrann die Zeit an diesem Tag nach Célines Tod extrem langsam. Dabei ging die Abreise des Ölscheichs völlig unter. Als die unglückselige Woche schließlich zu Ende war und zwei freie Tage bevorstanden, atmete Sarah erleichtert auf.

      Das Wochenende verbrachte sie bei ihren Eltern vorwiegend mit Schlafen und ausgedehnten Spaziergängen. Zwischendurch versuchte sie, sich mit ihrem Buch etwas abzulenken, doch sie musste rasch feststellen, dass sie bereits nach wenigen Seiten kaum mehr wusste, was sie gelesen hatte.

      Dazwischen telefonierte Sarah mit Bekannten, da sie einfach mit jemandem reden musste. Auch mit ihrer Mutter sprach sie über den Todesfall, allerdings ohne die Missachtung der Verordnung zu erwähnen. Doch schon bald wurde wieder über die eigene Familie gesprochen. Bruder Andreas sei im Moment etwas weniger aggressiv und habe seine Lehre noch nicht abgebrochen.

      Am Samstagnachmittag traf sich Sarah mit Fabienne im Kaffee Sprüngli beim Paradeplatz. Lange sprachen sie über alle möglichen Themen, ehe das unvermeidliche auftauchte.

      „Es ist gar nicht gesichert, dass Céline wegen dieser Spritze gestorben ist. Es kommen verschiedene Ursachen infrage“, begann Fabienne.

      „Ich habe Angst, dass wir zur Rechenschaft gezogen werden und ich glaube nicht, dass Schwester Regula, falls es zu einem Prozess kommen sollte, so aussagen wird, wie es wirklich gewesen ist. Dann werden wir schuldig gesprochen wegen Missachtung der Verordnung“, sorgte sich Sarah.

      „Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie eine Falschaussage macht. Sie wird die Sache in ihrer Formulierung wohl etwas beschönigen, aber sicher nicht alles abstreiten“, meinte Fabienne entschieden.

      „Ich habe kein gutes Gefühl, so wie sie sich verhält.“

      „Ach Sarah, sei doch nicht immer so pessimistisch. Zudem haben wir nur ein einziges Mal das starke Schmerzmittel gespritzt und die Gesamtdosis bei weitem nicht erreicht. Das Ganze ist eine Verknüpfung von unglücklichen Ereignissen. Sehr, sehr tragisch, aber alle Ärzte haben uns gesagt, dass niemanden eine Schuld trifft. Jedenfalls von der rechtlichen Seite her gesehen. Wir beide wissen natürlich, wie es vom moralischen Standpunkt her aussieht. Ja, unsere Schwester Regula kann sich nicht aus der Verantwortung stehlen, obwohl sie genau das versucht. Sie, die uns gezwungen hat das doppelte Dolofugquantum zu spritzen. Wir hingegen, haben nur den Auftrag unserer Chefin ausgeführt“, meinte Fabienne entschlossen. Sie steigerte sich geradezu in einen Wortfluss hinein, der sehr überzeugend wirkte. Ihre lebhafte Mimik und vor allem das Spiel der Augen, hatten Sarah schon so oft beeinflusst.

      „Ja, das stimmt schon. Aber wenn wir wissen, dass etwas falsch ist, haben wir doch die Pflicht, dies zu melden. Man kann doch nachher nicht immer alles auf andere abschieben“, widersprach Sarah.

      „Da hast du schon recht, nachher ist man immer schlauer. Aber wir können doch nicht jede Anordnung unserer Vorgesetzten hinterfragen. Das Spital ist hierarchisch aufgebaut, und die erfahrenen Fachkräfte leiten die jüngeren mit weniger Erfahrung. Auch Schwester Regula wollte nur das Beste für unsere Patientin. In tausend Fällen hat sie schon recht behalten. Einmal hat sie sich nun geirrt. Das kann passieren. Das kann jedem, wirklich jedem passieren. Stell dir doch mal vor, würden wir über diesen Vorfall sprechen, wenn alles gutgegangen wäre?“ Fabienne fixierte Sarah mit großen Augen eindringlich und stützte ihr Kinn auf dem Handrücken ab, wie sie das häufig tat.

      „Wohl kaum“, gab Sarah zu.

      „Siehst du. Aber nun ist es eben einmal so, obwohl ich es einfach immer noch nicht fassen kann. Ich fühle mich noch genauso schlecht. Der Fehler kann nicht ausgebügelt werden. Damit müssen wir leben. Aber wir sind auch nur Menschen, und alle Menschen machen Fehler. Bei uns hat das eben einfach ganz andere Folgen, als wenn du im Büro arbeitest.

      In der Medizin wird es immer mal Komplikationen geben. Auch bei allem Fortschritt, sogar noch in hundert Jahren, wenn Roboter einen Teil unserer Arbeit übernommen haben, auch dann werden Fehler gemacht, auch dann werden Menschen sterben. Das wird sich nie ändern. Wir müssen das einfach akzeptieren. Es wird noch eine Weile gehen, bis wir das alles verarbeitet haben werden, aber es bleibt uns keine andere Wahl.

      Täglich sterben Menschen auf eine Weise, wie es nicht nötig wäre, zum Beispiel im Straßenverkehr, nur weil sie unsinnig schnell gefahren sind. Das wäre einfacher zu verhindern. Bei uns sieht das ganz anders aus. Wir arbeiten mit kranken Menschen, die starke Medikamente benötigen und diese Medikamente haben nun mal Wirkungen und Nebenwirkungen, die nicht immer vorhersehbar sind. Im schlimmsten Fall führt das zum Tod.

      In unserem Fall haben alle nur das Beste für die Patientin gewollt, selbst Regula, also kann man nicht von Schuld sprechen, es ist einfach nur tragisch“, erklärte Fabienne, die immer leiser, fast flüsternd sprach, da sich das Lokal mehr und mehr füllte.

      „Und vor allem unabänderlich“, stellte Sarah bitter fest, „die Bedeutung dieses Wortes ist mir erst jetzt richtig bewusst geworden.“

      Für einen Moment blieb es ruhig.

      „Trotzdem, ich mache mir auch Sorgen wegen Martin Kramer. Er hält uns jetzt sicher für schlechte Schwestern, da wir seine Verordnung nicht eingehalten haben.“

      „Das glaube ich nicht, du bist noch Schülerin, die Verantwortung lastet nicht auf dir. Eher wird er seine Meinung über mich oder vor allem über unsere Abteilungsschwester ändern“, entgegnete Fabienne.

      Sarah zuckte die Schultern.

      „Du empfindest etwas für ihn, nicht wahr? Mir kannst du es ja sagen“, fragte Fabienne nach einer weiteren Pause und einem Schluck Kaffee.