„Das heißt bei dir so viel wie ja. Ich kenne dich schließlich und habe das auch sofort gespürt.“
„Na, vielleicht ein bisschen.“
„Oh, ihr würdet ausgezeichnet zusammen passen. Auch das habe ich im Blut.“ Fabiennes Augen leuchteten dabei, und Sarah lächelte erleichtert.
Es kam der Montagmorgen, und für Sarah war es ein ungewöhnlich schwieriger Weg zur Klinik. An diesem Tag war alles anders. Sarah wusste nicht, was sie erwartete und wie es mit ihr weitergehen würde. Die Selbstsicherheit, die sie sich während ihrer Ausbildung nur sehr mühevoll aufgebaut hatte, schien sich mit einem Schlage verflüchtigt zu haben. Das unheimliche Gefühl, es könnte wieder so etwas passieren, war stets präsent. Immer mehr wurde ihr bewusst, welch weitreichende Folgen ein einziger, kleiner Fehler in ihrer Arbeit haben könnte.
Es kostete Sarah große Überwindung ins ehemalige Zimmer von Céline zu treten. Im Raum erinnerte überhaupt nichts mehr an die verstorbene Balletteuse. Es roch nach medizinischem Alkohol und alles war fein säuberlich weggeräumt. Nur die Erinnerung an die letzte Patientin, die konnte niemand beiseiteschieben.
Kaum hatte Sarah das Krankenzimmer betreten, waren sie wieder da, die nagenden Selbstvorwürfe, die bohrenden Gedanken. Sie ließen sich nicht mit Desinfektionsmittel abtöten.
Es lag nun eine andere Patientin in jenem Bett, die von all dem nichts wusste. Die Dame war bedeutend älter, sodass es wenigstens vom Äußerlichen her keine Gemeinsamkeiten gab.
Manchmal war Sarah den Tränen nahe, doch sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen und war beinahe überzeugt, ihre Patienten würden nichts davon bemerken. Im Laufe des Vormittages kam Sarah etwas besser in den Trott. Wegen dem ausgedehnten Arbeitspensum blieb ihr kaum Zeit für weiteres Nachdenken.
Erst in der Kaffeepause wagte es Sarah, das im Raum schwebende Thema wieder anzusprechen.
„Ich kann einfach nicht so tun, als wäre nichts geschehen. Alles erinnert mich sofort wieder an Céline Jaquet, und die ganze Trauer ist wieder da.“
„Das ist ganz natürlich, aber wir können nichts mehr daran ändern. Wir müssen unser Leben weiterleben. Die Verarbeitung ist schwierig. Ich war dieses Wochenende viel in der Natur, das hat mir sehr geholfen“, meinte eine etwas ältere Kollegin.
Sie war etwa zehn Jahre älter als Sarah. Zudem war sie verheiratet und auch bereits Mutter. Für sie schien das weniger belastend zu sein.
„Ich kann meine Gefühle beim besten Willen nicht einfach ausschalten. Nur wenn ich an dieser Türe vorbei gehe, kommt wieder alles in mir hoch“, widersprach Sarah.
„Das ging mir als Schülerin anfangs genauso“, erwiderte die verheiratete Kollegin, „du darfst die Gefühle auch nicht ausschalten, du musst sie zulassen. Aber du wirst noch lernen, damit besser umzugehen. Mit der Zeit berühren dich die Todesfälle nicht mehr so stark.“
Sarah schwieg, sie mochte die Kollegin sehr gut, doch von dieser Aussage war sie alles andere als überzeugt. Für eine kurze Zeit herrschte eher peinliche Ruhe, bevor noch ein gut gemeinter psychologisierender Ratschlag einer anderen Kollegin folgte.
„Wir müssen jetzt vorwärts schauen!“, beendete Regula schließlich die Diskussion gefühllos, und Sarah gewann den Eindruck, als sei das Thema Céline für die Abteilungsschwester zum Tabu geworden.
Langsam begann der Geräuschpegel wieder etwas anzusteigen, und so kehrte der Alltag wieder auf die Station zurück.
Zum Kaffee wurde wie üblich Schokolade gegessen und auch schon bald wieder gelacht. Nur Regula blieb weiterhin humorlos und ungewohnt wortkarg.
So ging es die Woche weiter, über Céline fiel kaum mehr ein Wort. Erst als Ärzte und die Abteilungsschwester für die gerichtsmedizinische Untersuchung befragt wurden, kam das Thema wieder ins Gespräch. Später musste auch Fabienne Auskunft geben, während Sarah als Schülerin vorerst nicht befragt wurde. Aber sie wollte alles im Detail wissen.
„Nie hätte ich das gedacht, ich kann es nicht fassen, da stirbt ein junger Mensch auf unserer Station auf tragische Weise, noch keine Woche ist vergangen, und schon spricht niemand mehr davon. Kaum sind die Tränen getrocknet, geht es mit der Alltagsarbeit weiter, und die Toten sind anscheinend vergessen.“ Sarahs Stimme klang ungewohnt laut und anklagend.
„Das erstaunt mich schon auch“, antwortete Fabienne ruhig und kühl, „andererseits ist das eben auch ein Selbstschutz, den du in unserem Beruf brauchst. Wenn du dir jeden Fall so zu Herzen nimmst, dann kommst du aus dem Trauern gar nicht mehr heraus. Schließlich kommen immer wieder neue Patienten und die wollen auch gut behandelt werden. Wenn du gedanklich noch immer am Todesfall von vorher nagst, geht das eben nicht“, führte Fabienne weiter aus.
„Ich glaube schon, dass das geht“, widersprach Sarah, „wir sind schließlich keine Roboter und dürfen auch Gefühle zeigen. Wenn du einen solchen Todesfall nicht richtig verarbeitest, bleibt das als ungelöstes Problem in dir drin und kommt irgendwann wieder an die Oberfläche. Der Selbstschutz, den du meinst, funktioniert nur, wenn wir unsere Probleme beim Namen nennen und uns damit auseinandersetzen. Wir müssen darüber sprechen, sonst belastet es uns mit der Zeit noch mehr.“
„Ja, das Unterbewusstsein. Du hast im Prinzip schon recht, Fräulein Freud“, nickte Fabienne anerkennend, „aber trotzdem, die zu nahe Beziehung zum Patienten erschwert die Sache. Eine gewisse Distanz muss sein. Wir müssen mitfühlen, aber deswegen nicht auch jedes Problem des Patienten zu unserem eigenen machen.“
„Was deine Anspielung an Sigmund Freud betrifft, ich bin keine Psychologin, aber ich habe da mal ein Buch über Menschenkenntnis gelesen, und ich muss sagen, vieles was da drin steht, trifft hier bei uns in der realen Welt voll zu. Schau dir doch nur Schwester Regula an, sie ist das klassische Beispiel für Verdrängung.“
„Bemerkenswert, ich glaube, sie verdrängt noch so manch anderes“, witzelte Fabienne.
„Sie ist eine alleinstehende, nicht mehr junge Frau. Sie hat wohl einiges in ihrem Leben verpasst“, antwortete Sarah ernst und mitfühlend.
„Ob die überhaupt jemals einen Freund gehabt hat?“, fragte Fabienne.
„Das ist doch allein ihre Sache.“
„Man sagt, sie habe andere Laster“, fügte Fabienne vielsagend hinzu.
„Ach, die Leute sagen so manches.“
„Natürlich, aber bei Regula könnte ich mir das schon vorstellen. Beim letzten Personalfest hat sie ganz schön gebechert, so ausgelassen wie damals habe ich sie noch nie gesehen“, beharrte Fabienne.
„Im Moment ist sie alles andere als ausgelassen“, meinte Sarah.
„Allerdings. Ich habe sogar den Eindruck, dass sie mir aus dem Weg geht“, meinte Fabienne.
Sarah fühlte sich nach diesem Gespräch besser und erstmals seit Tagen verstanden. Sie fanden zwar keine Lösung, doch die Aussprache tat gut.
Noch vor kurzem hielt Sarah es kaum für möglich, dass Fabienne zur besten Freundin und einzigen Ansprechperson würde.
Trabant und Supernova
Tulpen und Apfelbäume blühten verspätet, doch dann begann ein schöner Frühling. Mehrmals schneite es noch im Mai, doch dann ließ mich das zart keimende Grün der Natur neue Hoffnung schöpfen. Nach all den schweren Tagen voller Selbstvorwürfe sah ich dies als Zeichen für einen Neuanfang.
Die bisherige Untersuchung der Gerichtsmedizin ergab keine neuen Befunde. Es wurde von einem Tod durch Atemdepression ausgegangen. Bis zur Schlussbeurteilung würde es allerdings noch länger gehen, teilte mir der Chefarzt mal im Vorbeigehen in der Umkleidekabine mit. „Wir haben wohl nichts zu befürchten, falls die Angehörigen von Céline Jaquet keine Klage einreichen“, schloss er.
Besonders beruhigend wirkte das nicht, und ich schluckte leer.
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