Kaum hatte der Alptraumchirurg den letzten Bissen zu sich genommen, schob er seinen Teller mit einer schwungvollen Bewegung beiseite und fuhr mit seiner immer wieder unterbrochenen Erzählung fort.
„Zwei lernen sich in einer Bar kennen, ich glaube, das habe ich dir bereits erzählt, nicht wahr?“ Er war in seinen verbalen Ausführungen genauso ausschweifend, wie in seinen chirurgischen Bemühungen. Beides dauerte unendlich lange. „Die beiden fragen sich also nach ein paar Gläsern, gehen wir zu mir oder zu dir. Sie überlegen und gehen schließlich zu ihr nach Hause. Ihre Wohnung liegt näher. Sie trinken zuerst einen Kaffee und kommen dann zur Sache. Danach zündet er sich eine Zigarette an, nimmt einen tiefen Zug und fragt zufrieden: Du bist sicher Krankenschwester, stimmt’s? Ja, antwortet sie, woher weißt du das bloß? Nun, das Bett ist so schön zurechtgemacht, das kann eben nur eine Krankenschwester! Ich bin beeindruckt, meint daraufhin die nicht diensttuende Schwester, aber weißt du, ich habe da nämlich auch so eine Ahnung, ich glaube, du bist Anästhesist. Nun ist der Mann ganz erstaunt und fragt: Ja, das stimmt, wie kommst du nur darauf? Die Frau antwortet: Ich habe eben überhaupt nichts gespürt.“
Der Alptraumchirurg konnte sein Lachen schon vor dem letzten Satz nicht mehr zurückhalten und steigerte sich danach in einen lautstarken Lachanfall, dass jeder in diesem Restaurant zu uns hinschaute, selbst Huber und der Blasse in der entferntesten Ecke. Das Lachen war derart ansteckend, dass schließlich alle am Tisch nur noch lachten, weniger wegen des Witzes, sondern wegen des unnachahmlichen Verhaltens des Albtraumchirurgen. Nachdem sich alle wieder etwas beruhigt hatten, zündete sich der Alptraumchirurg eine Zigarette an.
Da kam Anita hinzu und setzte sich zu mir.
„Was ist denn hier so furchtbar lustig?“
Das war meine Chance, dem noch immer lachenden Albtraumchirurgen zuvorkommen. Meine fehlende Schlagfertigkeit hatte mich schon so manches Mal geärgert, doch in diesem Moment zündete ein Geistesblitz in mir, und ich begann die Geschichte nochmals zu erzählen mit einem kleinen Unterschied bei der Pointe.
„Die junge Dame fragt ihn, du bist wohl Chirurg“, begann ich, ohne einen Mundwinkel zu verziehen, „und er ist erstaunt: Wie hast du das gemerkt? Weil du so ein Aufschneider bist!“
Danach erzählte mir der Alptraumchirurg keine Witze mehr.
Der spätere Nachmittag brachte mich wieder auf ihre Bettenstation. Wie üblich besuchte ich alle operierten Patienten des Tages und war gespannt, wie es Céline Jaquet ging. Ich hatte kein besonders gutes Gefühl, als ich in ihr Zimmer trat und sah auf den ersten Blick, dass sie sich nicht wohl fühlte. Blass war ihr Gesicht, eingefallen und leidend der Ausdruck. Vorsichtig näherte ich mich.
„Guten Abend, wie fühlen Sie sich?“, fragte ich so neutral wie möglich. Sie blickte auf, und es fiel ihr schwer zu sprechen.
„Ich habe ziemlich starke Schmerzen“, brachte sie tapfer hervor.
Es sah herzerweichend aus, wie sie dalag, ein Häuflein Elend. Da versuchte ich sie etwas aufzuheitern, setzte mich auf den Stuhl neben dem Krankenbett und bemühte mich, etwas optimistisch zu wirken. Ein Sprinteranästhesist hätte für so etwas nie Zeit gefunden.
„Nun, ich werde dafür sorgen, dass Sie ein stärkeres Schmerzmittel erhalten. Gleich wird Ihnen die Schwester die Schmerzspritze verabreichen, und dann werden sie etwas schlafen und vielleicht von Schwanensee träumen.“
Es gelang mir, ihr ein schwaches Lachen zu entlocken.
„Klingt gut, vielen Dank, Sie sind alle so nett.“
Im Korridor traf ich direkt auf drei Krankenschwestern. Sie war auch dabei. Mein Traumgesicht schaute mich mit ernstem nachdenklichem Ausdruck an, wie ich sie bisher noch nie gesehen hatte. Doch auch diese, bisher unbekannte, Seite passte gut zu ihrer Persönlichkeit.
Sofort kamen wir auf unser Sorgenkind zu sprechen. Ich erklärte meine Verordnung, dass umgehend das stärkere Schmerzmittel, ein synthetisches Opiat gespritzt werden sollte.
„Aber nur eine halbe Ampulle!“, betonte ich unmissverständlich, obwohl es bereits auf dem Verordnungsblatt stand, das ich im OPS ausgefüllt hatte.
Sie nickte und schaute mich mit hochgezogenen Brauen an.
„Sind diese Knieoperationen immer derart schmerzhaft?“, fragte sie, und dabei war ihr Gesicht ebenfalls leicht angespannt.
„Es tut schon immer etwas weh, aber unsere Patientin leidet eindeutig mehr als der Durchschnitt!“, erklärte ich, als wäre ich auf diesem Gebiet besonders erfahren. In Tat und Wahrheit hatte ich bisher erst einen Patienten nach einem solchen Eingriff betreut. Natürlich wollte ich dies vor ihr nicht zugeben. Innerlich verabscheute ich mich in diesem Moment selbst und kam mir wie der Aufschneider von Alptraumchirurg vor.
„Die Operation heute Morgen war wirklich schwierig“, fuhr ich unbeirrt fort, die Chirurgen hatten Mühe, es ging lange, aber das Kniegelenk ist jetzt wieder stabil hergestellt. Sie schauen sicher ab und zu nach Céline.“
„Natürlich, ich habe heute Spätdienst, da sonst nicht viel los ist, kann ich mich gut um sie kümmern.“
Ich sah in mein Traumgesicht, und mir fiel nichts mehr ein, was ich sagen könnte.
„Ja, dann gebe ich ihr jetzt das Schmerzmittel“, fügte sie nach einer kurzen Pause mit einem feinen Lächeln an und wandte sich einem älteren Ehepaar zu. Es waren offensichtlich Besucher, die das gesuchte Zimmer nicht fanden.
Für mich gab es somit auf dieser Abteilung nichts mehr zu tun. Mein Teil der Betreuung von Céline Jaquet als Anästhesiearzt war mit dieser letzten Verordnung abgeschlossen. Ich bedauerte es in diesem Fall ganz besonders, dass ich als Anästhesist die Patienten immer nur während einer ganz kurzen Phase betreuen konnte, ohne den weiteren Verlauf weiterverfolgen zu können. Die Visiten vor und nach der Operation waren für mich von ganz besonderer Bedeutung. Ich konnte dabei aus meinem grünen Ghetto in die weiße Spitalwelt auftauchen. Das brauchte ich, wie ein Delphin, der Luft holt, denn da oben war der Sauerstoff.
Obwohl es nicht meine Pflicht war, wollte ich morgen wieder bei Céline und meinem Traumgesicht vorbeischauen. Gleichzeitig fasste ich auch den festen Entschluss, sie anzusprechen und mich vielleicht einmal mit ihr zu verabreden. Allerdings hatte ich noch keinerlei Ideen, wie ich das anstellen wollte und hoffte auf eine originelle Inspiration.
Bis zur abendlichen Fortbildung erledigte ich in unserem großen Assistentenbüro wenig interessante administrative Arbeiten, wurde allerdings immer wieder von Kollegen gestört, die sich mit mir unterhalten wollten. Insgeheim hoffte ich, sie würde mich wegen der leidenden Céline Jaquet noch einmal anrufen. Doch mein Sucher blieb stumm.
So entschloss ich mich, eine halbe Stunde vor Beginn des Referates nochmals selbst vorbeizuschauen. Auf der Station, sah ich sie schon von weitem, und kaum hatte sie mich erblickt, kam sie mir auch schon entgegen. Vor dem Zimmer unserer gemeinsamen Patientin blieb sie wie angewurzelt stehen. Sie räusperte sich und sprach schnell, mit angespanntem Ausdruck: „Es geht ihr besser, sie schläft schon wieder, Celine, meine ich.“
„Na, dann bin ich ja erst mal beruhigt. Hat das Schmerzmittel also gewirkt?“
„Ja, das hat es allerdings.“ Sie stellte sich zwischen mich und die Türe.
„Also ich denke, wir lassen sie jetzt schlafen, aber später werde ich dann sicher wieder nach ihr schauen“, beeilte sie sich anzufügen. Dabei wirkte sie auf mich ungewohnt nervös.
„In Ordnung. Und mit Ihnen ist auch alles okay?“
Sie wirkte etwas verlegen. „Mit mir … ja natürlich, was soll schon sein? Es ist ziemlich anstrengend hier, heute Abend.“
„Natürlich, verstehe. Allerdings haben Sie doch vorhin gesagt, es wäre nicht so viel los“, wunderte ich mich.
„Ja,