»Es waren nicht die Erzengel, die ihn bestraft haben.« Rachel blickte auf Uris Bingokarte herab, runzelte die Stirn, und griff über den Tisch, um eine andere aufzunehmen. »Das würden sie nie tun.«
»Also ich kann mir vorstellen, dass Gabrielle sowas in der Art anordnet«, warf Lash ein.
»Lash«, sagte Naomi warnend. Gabrielle war immer noch ein wunder Punkt für ihn. Rachel hatte ihr erzählt, dass Gabrielle und Lash nicht gut miteinander auskamen. Als Gabrielle ihr als Tutorin zugeteilt worden war, hatte sie deshalb gedacht, dass es schwierig sein würde, mit Gabrielle zusammenzuarbeiten. Stattdessen war sie Naomi gegenüber sehr geduldig gewesen und hatte ihr sogar Extrazeit gegeben, um Teile ihres Trainings abzuschließen. Ihr war aufgefallen, dass Gabrielle sich sehr geschäftsmäßig verhielt und keinem der Engel je auf persönlicher Ebene begegnete. Naomi konnte das verstehen. Es musste schwer für sie sein, nach Michael den zweithöchsten Rang in der Befehlskette einzunehmen. Sie war ihm noch nicht begegnet, aber jeder sprach mit großer Ehrfurcht von ihm, auch Lash. Die einzige Gelegenheit, bei der Gabrielle sich zu entspannen schien, war, wenn sie mit Raphael zusammen war. Hätte sie es nicht besser gewusst, hätte sie schwören können Gabrielle sei in ihn verliebt.
»Was?« Lash sah sie unschuldig an. »Es stimmt doch. Wenn es um mich ginge, würde sie es sofort tun.«
»Gabrielle kann manchmal ein bisschen… steif sein, aber sie meint es gut.« In Rachels großen braunen Augen schimmerten Tränen, als ihr Blick sich in der Ferne verlor. Anscheinend erinnerte sie sich an etwas. »Sie hat ihr Leben riskiert, als sie mir gefolgt ist und sie hätte mir nicht sagen müssen, wie man zum Feuersee kommt.«
»Na klar.« Lash sah sie einen Moment lang skeptisch an, dann wandte er seine Aufmerksamkeit Uri zu. »Also, was hast du angestellt?«
»Weißt du das nicht?«, fragte Naomi überrascht. Sie hatte angenommen, dass Rachel und Lash mittlerweile darüber gesprochen hatten, weil sie so gut befreundet waren.
»Lash weiß, dass ich umgekommen bin und dann zurückgebracht worden bin. Ich habe nur niemandem erzählt, wieso«, erklärte Uri und schien verwirrt. Er warf Rachel einen nervösen Blick zu, bevor er fortfuhr. »Versteht ihr, ich war damals ganz anders. 1400 v. Chr. bin ich zur Stadt Ai unterwegs gewesen mit Raphael und Luzi– «
»Ach, das langweilige Zeug interessiert sie doch nicht.« Rachel sprang von seinem Schoß. Sie stöberte in dem Stapel Bingokarten in der Mitte des Tisches und sah sich jede genau an. Sie vermied jeden Blickkontakt, während sie sprach. »Uri wurde von Luzifer und Saleos gefangen gehalten. Und wegen… ähm… besonderer Umstände entschieden die Erzengel ihn… na ja…« - sie sank auf ihrem Stuhl zusammen und schluckte - »sterben zu lassen.«
»Das ist grausam.« Naomi konnte sich nicht vorstellen, was er getan hatte, das so schlimm sein konnte, dass Rachel und er es verdient hatten, so zu leiden. Sie sah Rachel aufmerksam an, die sich unter ihrem prüfenden Blick wand. Da gab es etwas, das sie ihr nicht erzählte. Neben Lash war Rachel eine ihrer engsten Freundinnen geworden, wie eine Schwester, mit der sie alles teilte – bis jetzt.
»Die Stadt Ai«, sagte Lash. »Das klingt vertraut. Wo hab ich schon mal davon gehört?«
Rachels gezwungenes, hohes Kichern überraschte Naomi. »Sieh dir nur diese Karte an, Naomi. La Muerte.« Sie las es und reichte ihr dann die Karte mit dem Bild eines Skeletts, das eine Sense hielt. »Es sieht überhaupt nicht aus wie Jeremy. Seine neuen Krokodilstiefel sind nicht drauf. Nicht wahr, Uri?«
Uri runzelte verwirrt die Stirn. Dann, als er Rachels Wink mit dem Zaunpfahl allmählich begriff, sagte er: »Richtig, seine Krokodilstiefel – sehr nett.«
Naomi sah, wie Lash sich versteifte und bei der Erwähnung von Jeremys Namen mitten im Mischen innehielt. Jeremy war einen Tag, nachdem sie mit Lash wieder vereint gewesen war, verschwunden. Sie hatte von dem Kampf gehört, den Lash mit ihm gehabt hatte und fühlte sich deswegen schrecklich. Sie hatte Raphael nach Jeremy gefragt in der Hoffnung, sie könnte etwas tun, um dabei zu helfen, die beiden besten Freunde wieder miteinander zu versöhnen. Raphael hatte nur traurig den Kopf geschüttelt und gesagt, dass Gabrielle ihm einen langwierigen Auftrag gegeben habe und dass er nicht wisse, wann er zurückkehren würde.
»Dann ist Jeremy also zurück.« Lash hatte wieder angefangen, die Karten zu mischen. Seine Stimme klang gepresst.
Rachel sah zu Lash und dann zu Naomi. Mitleid stand in ihren Augen. Dann drehte sie sich mit einem, wie es schien, gezwungenen Lächeln zu Lash um. »Ich habe ihn heute Morgen gesehen. Vielleicht könntet du, Jeremy und Uri eure Pokerrunden wieder aufnehmen.«
Lashs Unterkiefer spannte sich an. Er starrte auf die Karten hinab, als er sie mit den Daumen durchblätterte. Er klopfte mit dem Kartendeck auf den Tisch und mischte wieder wortlos.
Es wurde zunehmend ungemütlich im Raum, als er es vermied, auf den Vorschlag zu antworten.
»Das ist eine gute Idee«, stimmte Naomi zu und zwang ihre Stimme heiter zu klingen. Sie warf Rachel und Uri einen Blick zu, bemerkte die wissenden Blicke, die die beiden einander zu warfen und seufzte. Noch mehr Geheimnisse. Was hatte es bloß mit diesem Ort und den ganzen Geheimnissen auf sich? Sie war nicht daran gewöhnt, dass die Leute um sie herum Geheimnisse vor ihr hatten, besonders, nachdem Lash endlich enthüllt hatte, dass er ein Seraph war und Raphael ihr gesagt hatte, dass sie der siebte Erzengel war.
Lash hatte ihr sogar von seinem Gespräch mit Raphael erzählt und davon, dass Rebecca, der Schutzengel ihrer Großmutter, seine Mutter war und Raphael sein Vater. Und als er ihr erzählt hatte, dass Jeremy sein älterer Bruder war, hatte sie schon geglaubt, sie hätten die Geheimnisse jetzt hinter sich gelassen… anscheinend war dem nicht so. Wie frustrierend! Kein Wunder, dass Lash launisch gewesen war, als sie ihm das erste Mal begegnet war. Sie warf ihm das nicht im Geringsten vor.
»Erklär es mir noch einmal: Weshalb müssen wir Pintobohnen verwenden?«, fragte Lash und nahm sich eine Hand voll.
Er versuchte offensichtlich, das Thema zu wechseln. Sie seufzte. Vielleicht war es besser, beim Spielen vom mexikanischen Bingo zu bleiben.
»Wir müssen keine Bohnen benutzen. Mit Bingochips würde es genauso gut funktionieren. Belita hat gern Bohnen verwendet.« Ein vertrauter Stich fuhr ihr durch die Brust, derselbe, den sie immer fühlte, wenn sie an ihre Großmutter und ihren Cousin Chuy dachte.
Als Naomi gerade im Himmel angekommen war, hatte sie sich in ihren Trainingspausen vergewissert, dass es ihnen gut ging. Aber mit jedem Mal, das sie das tat, war es für sie schwerer und schwerer geworden, sich von der Brücke über den Bach loszureißen – vom einzigen Fenster, dass ihr zu ihrer Welt geblieben war. Gabrielle hatte ihre Unfähigkeit mitbekommen, sich nach jedem ihrer Besuche zu konzentrieren und ihr befohlen, die Brücke zu meiden bis ihr Training abgeschlossen war.
Zuerst fand sie es unerträglich, dass Gabrielle sie im Grunde darum bat, ihre Familie zu vergessen. Lash war natürlich aus der Haut gefahren und hatte angeboten, die Sache vor Michael zu bringen, und erklärte, sie arbeite schwer und einen Blick auf ihre Familie zu werfen helfe ihr, den Übergang in den Himmel leichter zu machen. Als sie sich wieder beruhigt hatte, war ihr klargeworden, dass Gabrielle recht hatte. Ihr neues Leben und ihre neue Familie waren hier bei ihm und die beste Art sich zurechtzufinden war, sich in ihrer neuen Rolle als Erzengel zu vergraben.
»Naomi.« Lash berührte sie sanft an der Schulter. »Ist alles in Ordnung?«
»Ja, ich habe nur an Belita gedacht. Ich vermisse sie und Chuy.«
»Ich vermisse sie auch… und Bear«, sagte Lash und fügte den Chihuahua ihrer Großmutter hinzu. »Verrücktes, kleines Fellknäuel.«
Naomi fragte sich, was sie jetzt gerade taten. Sie fragte sich, ob es dort auch spät am Abend war wie oben im Himmel. In welcher Zeitzone sich wohl der Himmel befand?
Chuy und sein bester Freund Lalo saßen vermutlich gerade am Abendbrotstisch. Sie mussten gerade