Ich brach zusammen.
Ich erfahre, dass ich nicht ‚normal‘ bin
Langsam spürte ich warme Lichtstrahlen in meinen Augen. Ich lag auf einem steinharten Boden und öffnete leicht meine Augen.
„Sie erwacht“, wisperte Esabel glücklich neben mir.
Ich rieb mir die Augen und hockte auf.
„Ah, was ist passiert?“, fragte ich verwirrt, und Jay tupfte mit einem feuchten Tuch meine Stirn ab.
„Du wurdest ohnmächtig.“
Clavia massierte mir meine Schultern, Esabel reichte mir eine Wasserflasche, und Clor hielt meine Jacke in der Hand.
Ich sass in meinem gelben Top auf dem Boden und schluchzte. „Wie lange war ich ohnmächtig?“
„Einen Tag“, antwortete Clor.
Ich nahm einen grossen Schluck aus der Flasche. „Stimmt das wirklich, dass ich nur eine halbe Seele habe und ihr auch?“, wollte ich verzweifelt wissen.
Alle bejahten. Ich schloss wieder meine Augen.
„Werde aber bitte nicht nochmals ohnmächtig!“, flehte Clavia mich an.
Ich schüttelte den Kopf und legte mich wieder hin. „Möchte und werde ich auch nicht. Aber sagt mal, was ist denn an uns so speziell und wo bin ich eigentlich?“ Ich guckte mich um und merkte, dass wir uns in einem dunklen Raum befanden. Durch ein kleines Fenster schienen angenehm warme Sonnenstrahlen.
Der Raum war komplett leer und schien nicht bewohnt.
„Wir sind in einem unbewohnten, alten Haus. Vieles ist kaputt, aber das hier ist der einzige Ort, an dem uns niemand sehen kann und wir dir in aller Ruhe alles erklären können“, sagte Clor.
„Dann erzählt mir bitte, was so speziell an Halb-seeligen ist.“
Die vier guckten sich gegenseitig an, und Esabel rutschte neben mich hin. „Weisst du, alle normalen Menschen auf dieser Welt haben eine ganze Seele. Es gibt aber auch Menschen, die eine halbe Seele in sich tragen und in einer speziellen Stadt leben.“
„Das bedeutet, eine Hälfte der Seele ist noch im Körper und die andere ist ins Jenseits gewandert“, ergänzte Jay und lächelte mich an.
„Aber ist denn diese Hälfte der Seele, die ins Jenseits geht, schon seit der Geburt fort?“, fragte ich.
„Nicht ganz. Die Halbseeligen haben seit der Geburt eine halbe Seele, aber die andere Hälfte der Seele ist sozusagen eingeschlossen im Körper. Die eine Hälfte kann sich bewegen und machen, was sie will, und die andere Hälfte ist gefangen“, versuchte Clavia mir zu erklären.
„Doch irgendwann im Leben befreit sich die halbe Seele. Da sich diese Hälfte der Seele nicht an den Körper hat gewöhnen können und nicht weiss, wie man mit einem lebendigen Menschen umgeht, geht diese gefangene Seele raus aus dem Kör-per“, ergänzte Clor.
„Und gestern hat sich deine gefangene Seele aus deinem Körper befreit“, bemerkte Esabel.
„An Debbys Party?“
„Deshalb tat dir dein Körper derart weh. Jedes Mal, wenn es dich zwickte, befreite sich die Seele immer mehr aus deinem Körper“, entgegnete Esabel.
„Und das ist euch auch schon passiert?“
Alle vier nickten gleichzeitig.
„Bei mir war das vor zwei Monaten“, meinte Clavia.
„Meine ging vor einem Jahr raus“, sprach Clor.
„Zwei Jahre“, sagte Jay.
Esabel lächelte: „Drei Jahre.“ Sie streckte Jay die Zunge raus, und er verdrehte nur seine Augen.
„Und warum passieren mir immer wieder solch merkwürdige Dinge? Als wäre ich verflucht.“
„Das liegt daran, dass wir Halbseeligen ausser-gewöhnliche Kräfte haben und das Einfluss auf uns haben kann. Unsere Kräfte ziehen sozusagen Gefahren an, sodass man sich stark verletzen oder sogar sterben könnte. Wir sind wie Magnete für gefährliche Situationen, aber dafür tragen wir auch diese Armbänder“, erklärte Jay.
Alle zeigten sie mir. Sie sahen ähnlich aus wie dasjenige, das ich von Esabel geschenkt bekommen hatte.
Jays Armband ist hellgrün und hat ebenfalls ein Symbol. Sein Zeichen sieht aus wie ein grosses ‚M‘, und darin steht ein grosses ‚H‘, das um 90 Grad gedreht ist.
Clavias Armband ist grausilbern, und ihr Zeichen ähnelt einem grossen ‚S‘, das in einem grossen ‚U‘ steht. In der ‚S‘-Mitte hat es ein kleines Kreuz.
Clors Armband ist himmelblau, und sein Symbol sieht aus wie ein ‚N‘ mit einem eingemitteten ‚#‘.
„Und was bringen diese Armbänder?“, fragte ich.
„Sie bewahren uns vor solch gefährlichen Situationen und schützen uns“, antwortete Jay.
Ich blickte auf mein Armband und merkte, dass es gar kein Symbol hatte. „Warum hat meins keines?“
„Meine Zwillingsschwester muss zuerst noch herausfinden, welche Kraft du besitzt. Dann kann sie das Zeichen in das Armband eingravieren“, meinte Clor.
„Und weisst du, dieses Symbol auf dem Armband haben wir auch irgendwo auf unserem Körper. Mein Zeichen ist auf der Handoberfläche“, äusserte sich Esabel.
Jay zog seine Jacke aus und deutete auf seine Schulter. „Mein Zeichen ist hier.“
„Meines am Nacken“, sagte Clavia und drehte mir ihren Rücken zu. Da war wirklich das gleiche Zeichen, einfach viermal grösser.
Clor zeigte sein Symbol an seinem Unterarm.
Alle schienen gleich gross, etwa sieben Zentimeter lang und sieben Zentimeter breit. Ich staunte.
„Anny, dein Nachname ist Brev, oder?“, fragte mich Clavia.
Ich nickte.
„Dann besteht dein Zeichen aus einem grossen ‚B‘.“
Ich überlegte und kapierte, was sie meinte. „Und wie lauten denn eure Nachnamen?“
„Meinen kennst du ja bereits: Esabel Cursh.“
„Clavia Serux.“
„Mein voller Name ist Clor Nashex.“
„Und meiner Jay Mershon.“
„Dann ist in eurem Symbol immer der Anfangs-buchstabe eures Nachnamens drin?“
„Jep“, sagten alle miteinander.
Ich setzte mich im Schneidersitz hin. „Und was ist an Halbseeligen sonst noch speziell, ausser dass jeder Halbseelige ein Symbol trägt?“, fragte ich neugierig.
„Wir sind alle hyperaktiv“, sprach Jay.
Ich war baff. „Wirklich?“
„Ja, und wir Halbseeligen mögen Sport, Schwert-kampf, Messerkampf und so weiter, am liebsten kämpfen wir.“
Ich war überrascht, denn ich mochte es ehrlich gesagt sehr zu kämpfen.
„Wir werden alle äusserst schnell aggressiv und sind ab vielem genervt.
Wir haben eine enorme Energie und alle Halb-seeligen haben spezielle Kräfte“, sprach Clavia.
Ich überlegte. „Kräfte?“
„Ja, Kräfte. Zum Beispiel Wasserkräfte, Erdkräfte, Luftkräfte, Steinkräfte, Metallkräfte und und und ... Jeder Halbseelige hat irgendeine Art spezielle Kraft, denn sonst ist man keiner“, erläuterte Clor.
„Und was habt ihr für Kräfte?“, fragte ich.
Esabel beugte sich zu mir hin.