halbseelig. Joëlle Schüpfer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Joëlle Schüpfer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783710332289
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Er kam auf mich zu.

      „Hier, Alte“, sagte er und reichte es mir.

      Levi nennt mich Alte, weil ich genau einen Monat älter bin als er.

      Ich bedankte mich bei ihm und trank mit einem Schluck alles aus.

      „Geht es dir wirklich gut?“, fragte er mich erneut besorgt.

      „Ja, danke, alles ist gut.“

      Ohne Vorahnung durchzuckte ein Zwick meinen Körper. Ich fuhr zusammen. Levi hatte sich inzwischen wieder auf die Tanzfläche begeben. Kurz danach folgte der zweite Zwick. Es tat höllisch weh. Die Lampe neben der Couch schien sich selbstständig zu machen. Sie flog direkt auf mich zu und prallte auf meine Hand, die einen grossen Schnitt abbekam. Niemand nahm das wahr. Ich riss mich zusammen und biss mir auf die Lippe. Da durchfuhr mich erneut ein Zwick.

      Ich stand auf und rannte in den zweiten Stock, um das Badezimmer aufzusuchen. Es war niemand da, ausser dass ich in einem Raum ausgerechnet Clavia, Clor und Jay wiedererkannte.

      Sie redeten miteinander, und ich ging unbemerkt an ihnen vorbei. Da zwickte es mich schon wieder. Ich knallte unverhofft gegen die Wand. Clavia, Clor und Jay mussten den Aufprall gehört haben und blickten in meine Richtung. Ich schwitzte, und die Schmerzen trieben mir Tränen in die Augen.

      Da endlich entdeckte ich das Badezimmer. Mit wackeligen Beinen hastete ich rein und stützte mich auf dem Lavabo ab.

      Als ich mich im Spiegel ansah, durchfuhr mich abermals ein Zwick. Ich drehte den Wasserhahn auf, und wie durch Zauberhand ging er sofort kaputt. Wasser spritzte in mein Gesicht. Ich erschrak derart, dass ich mitsamt Wasserhahn umfiel und mir den Kopf anschlug. Der Wasser-hahn wich aus meinen Händen und krachte gegen das Fenster. Meinen Schnitt an der Hand spürte ich kaum mehr. Schlapp stand ich auf. Immerhin spritzte das Wasser nicht mehr.

      Ich schaute erneut in den Spiegel und stellte fest, dass dieser immer mehr Risse bekam. Mein Atem wurde immer schwerer und neiiiiin ... Es zwickte mich schon wieder stark. Ich brach zusammen. Mein ganzer Körper schmerzte. Am Lavabo versuchte ich mich hochzuziehen, um mich im zerbrochenen Spiegel anzuschauen.

      Eine eigenartige Gestalt stand neben mir. Ich drehte meinen Kopf nach hinten.

      Sie sah gleich aus wie ich, nur dass die Augen samt Pupillen weiss waren und sie böse und gefährlich dreinschaute. Ich kreischte, und vor lauter Schreck rannte die Gestalt aus dem Badezimmer. Ausser Atem und keuchend setzte ich mich in die Ecke und konnte nicht fassen, was ich soeben erlebt hatte. Ich schwitzte wie ein Fluss, und mein Herz pochte wild. Kraftlos stand ich auf. Ich hatte zwar keine Schmerzen mehr, aber meine Angst war auf 100 Prozent gestellt.

      Ich vernahm ein Knacken hinter mir. Ein Holzregal im Badezimmer kippte mir entgegen. „WAS IST DA NUR LOS?!!“ Ich hauchte eine Feuerwolke aus dem Mund, sie flog Richtung Regal. Dieses fackelte innert weniger Sekunden ab. Asche fiel vor meine Füsse. Ich klatschte mir die Hände auf den Mund. „Oh mein Gott, ich bin ein Monster“, nuschelte ich verstört und taumelte langsam aus dem Badezimmer. „Ich muss hier weg, so schnell wie möglich!“

      Verwundert guckten mich Clavia, Clor und Jay an, als sie mich vorbeihuschen sahen. Schnell machte ich mich aus dem Staub und stürmte die Treppe runter. Die Teenager tanzten noch immer ausge-lassen. Hinter mir hörte ich die anderen drei. Ich flitzte durch die Teenagermenge. Auch Levi schwang unbeschwert sein Tanzbein. Ich be-achtete ihn nicht, aber er mich. „Hey Anny! Anny?!“

      Ich eilte nach draussen und die drei hinter mir her. Schnellstens wollte ich weg von hier. Bald verloren sie mich zum Glück aus den Augen.

      Nach ein paar Minuten erreichte ich mein Haus und riss die Türe auf.

      „Hallo Liebes“, begrüsste mich Dad mit ruhiger Stimme.

      Kopfschüttelnd und wortlos rannte ich die Treppe hoch und knallte die Tür hinter mir zu. Ich schloss sie ab und stampfte auf den Boden.

      „Anny?!“

      „NEIN Dad! Ich will dich nicht verletzen! Komm ja nicht in mein Zimmer!“ Ich liess mich auf mein Bett fallen. Es fiel augenblicklich in sich zusammen. „NEIIINN!!“, schrie ich. Meine Matratze lag am Boden und das Bettgestell kaputt nebenan.

      Dad klopfte forsch an die Tür. „Hey Anny, was ist los?“

      „Ich weiss es selber nicht!“, lärmte ich und schlug meine Hand auf den Boden.

      Dad sagte lange nichts. „Anny, du kannst mit mir über alles reden, wirklich.“

      Ich starrte an die Decke. „Oke, dann erzähl mir etwas über meine Mom!“

      Dad grummelte etwas vor sich hin. „Wenn es um deine Mom geht, dann sage ich nichts.“

      „Dann geh bitte weg!“, forderte ich ihn wütend auf. Ich kriegte mit, wie Dad sich von meiner Zimmertür entfernte.

      Mein Handy klingelte, Levi rief mich an. „Anny, wo bist du und was ist passiert?“ Er klang besorgt.

      „Ich bin verrückt. Ich sehe Sachen, die unnatürlich sind, und mir passieren Dinge, die unmöglich sind!!“, schluchzte ich.

      „Seit wann?“

      „Seit HEUTE!“

      „Was für Sachen meinst du? Bist du zu Hause?“

      „Ja, ich bin daheim. Zum Beispiel ging der Wasser-hahn kaputt, als ich ihn nur leicht berührte. Er spritzte mich von oben bis unten nass.

      Auf meine Hand kippte eine Steinlampe, ohne dass sie jemand zuvor berührt hatte. Nun habe ich da einen grossen Schnitt, doch immerhin schmerzt er nicht mehr. Zudem fiel ein Regal auf mich, und komischerweise fackelte ich es mit meinem Atem ab und ... und ... AHHH, WAS IST MIT MIR LOS?!!“ Nervös ging ich auf und ab.

      Levi versuchte mich zu beruhigen. „Du bist nicht verrückt. Wahrscheinlich sind das alles Illusionen oder etwas Ähnliches.“

      „Da bin ich mir nicht so sicher“, erwiderte ich.

      „Weisst du was, Alte, geh einfach kickboxen, und alles wird danach wieder gut sein. Du kannst mich jederzeit anrufen, wenn du Hilfe brauchst.“

      Halbwegs erleichtert setzte ich mich auf den Boden. „Danke Levi. Du bist der Beste.“

      Wir legten auf, und ich schlüpfte in meine blaue Trainerhose und zog mein pinkes Top an. Meine Haare band ich zu einem schlichten Pferde-schwanz zusammen. Ich verband meine verletzte Hand und packte meine Turntasche einschliesslich Schuhe und Trinkflasche. Dann rannte ich nach unten, verabschiedete mich ohne grosse Worte von Dad und lief in Richtung Stadt.

      Nicht weit vom Strand entfernt befindet sich das Kickboxcenter. Meine Kickboxlehrerin heisst Amanda Fershas. Sie könnte das Double von Angelina Jolie sein, einfach noch kräftiger, sport-licher und jünger.

      Ihre Haare sind braun, die Augen grünblau und ihre Hautfarbe honigbraun. Sie trägt oft schwarze Boxershorts und ein weisses Top. Ich bin ihre beste Schülerin, und sie mag mich sehr, so wie ich sie auch.

      Ich trat ein, und da ich zwei Stunden zu früh dort war, war nur Amanda anwesend.

      „Oh Anny. So früh schon hier?“, fragte sie stutzig.

      „Ja, ich wollte heute früher kommen.“

      Im Trainingsraum hängen unzählige Boxsäcke und Puppen zum Dreinschlagen. In der Mitte ist die Kampfarena. Der Raum ähnelt irgendwie einem Militärbunker, hat keine Fenster, nur eine Lampe leuchtet hell.

      Ich vernahm Stimmen und lauschte. „Und vergiss nicht, verhalte dich normal!“, hörte ich eine be-kannte Jungenstimme sagen.

      „Ja Mann!“, erwiderte eine Mädchenstimme.

      In dem Moment betrat ein Mädchen den Trainings-raum.

      Ich schätzte sie etwa auf mein Alter. Ihre blond-weissen Haare hatte sie zu zwei Schwänzen gebunden. Ihre Augen glänzten blaugrünpink, und ihre Haut schien ein wenig heller als meine. Sie trug ein weisses Top, grüne Sportleggins, und sie war barfuss,