Das Zwei-Wege-Modell lässt sich den informationstheoretisch basierten Modellen zuordnen. Nach diesem Modell gibt es zwei Lesewege: einen indirekten und einen direkten. Wird ein Wort auf dem indirekten Weg erlesen, werden die einzelnen Buchstaben in Laute umgewandelt, d. h. phonologisch rekodiert. Danach werden sie zu einem Wort synthetisiert. Während des phonologischen Rekodierens werden die in Lautwerte umgewandelten Buchstaben im Laufe der Verarbeitung der folgenden Buchstaben im Arbeitsgedächtnis zwischengespeichert (phonetisches Rekodieren im Arbeitsgedächtnis). Grundlage für diese Umwandlung sind die erworbenen Phonem-Graphem-Korrespondenzen. Das entstandene phonologische Konstrukt wird der Artikulation zugeführt. Aufgrund koartikulatorischer Prozesse (Phonologie der Silbe) in der Lautsprache und der nicht eindeutigen Korrespondenzen zeigt sich der erste Leseversuch nicht immer identisch mit der tatsächlichen Aussprache. Vor allem Leseanfänger zeigen hier in einem nicht nur länger dauernden und wenig effizienten Leseweg häufig Schwierigkeiten, die u. a. auch auf eine geringe Kapazität des Arbeitsgedächtnisses, quasi durch eine Gedächtnisüberlastung, beim Rekodieren und Dekodieren zurückzuführen sein könnten (Hasselhorn & Grube, 2003, 2007).
Der zweite und wesentlich effizientere ist der direkte Leseweg. Das Wort wird aufgrund visueller und phonologischer Eigenschaften der Buchstabensequenz als Ganzes im orthografischen Lexikon aufgerufen. Die wahrgenommene Buchstabenfolge eines Wortes wird durch den direkten Vergleich mit dem mentalen Lexikon in seiner Bedeutung erkannt. Dabei spielt auch der Kontext, kombiniert mit semantischen und morphologisch-syntaktischen Antizipationen, eine Rolle. Der direkte Weg des Lesens eines Wortes ist nur möglich, wenn das Wort zuvor schon als Ganzes im Gedächtnis gespeichert ist, also eine entsprechende Repräsentation im mentalen Lexikon besitzt. Gleichzeitig wird im phonologischen Wortformspeicher, also dem Teil des Lexikons, in dem die phonologischen Informationen eines Wortes gespeichert sind, der phonologische Code aktiviert. Dieser wird sofort der Artikulation zugeführt, sodass das Wort benannt werden kann. Befunde aus der Forschung zum Lesen (Mayer, 2006) erklären einen erschwerten Zugang zum direkten Leseweg u. a. damit, dass Kinder Schwierigkeiten in der Speicherung und der effektiven Abrufbarkeit der Repräsentationen aus dem mentalen Lexikon und somit der Aktivierung des phonologischen Codes haben. Kinder mit dem s. g. »naming-speed-deficit« (Mayer, 2006, 227) sind anfänglich im Erstleseunterricht unauffällig, da sie mit dem Erlernen des phonologischen Rekodierens keine Schwierigkeiten haben. Auffällig werden sie dann, wenn sie häufig auftretende Wörter als Ganzheiten benennen sollen (Mayer, 2006).
Mit einer zunehmenden direkten Worterkennung wird auch das Lesen durch die Einbettung von Wörtern in einen bestimmten Kontext erleichtert. Es ist dabei von parallel ablaufenden und sich wechselseitig bedingenden Teilprozessen in Abhängigkeit der Leseanforderung und der Komplexität des Textmaterials auszugehen. Das Wortlesen ist sowohl für die Komponente der Lesefertigkeit als auch für die Komponente des Leseverständnisses bedeutsam. Wie gut ein Kind Wörter lesen kann, kann deshalb durch die Lesegeschwindigkeit und die Lesegenauigkeit mit altersangemessenem Wortmaterial überprüft werden.
Lenhard (2013) hat die Teilprozesse des Lesens und damit zu erwerbende Teilfertigkeiten von Lesekompetenz in seinem Situationsmodell in hierarchieniedere und hierarchiehohe Prozesse systematisiert. Für die Lesefertigkeit sind die hierarchieniederen Prozesse (z. B. Rekodieren und Dekodieren), für das Leseverständnis hierarchiehohe Prozesse (z. B. Anwendung von Lesestrategien) ausschlaggebend. Hierarchie ist dabei nicht mit Über- oder Unterlegenheit bestimmter Prozesse zu verstehen. Es geht vielmehr darum, dass hierarchieniedere Prozesse durch stetige Übung automatisiert werden können und somit mentale Ressourcen freigeben, die dann für hierarchiehohe Prozesse verwendet werden können. Das Modell von Lenhard (2013) wird im nächsten Abschnitt insbesondere in seiner Bedeutung für die Entwicklung des Leseverständnisses weiter erläutert. Das für die Förderung hierarchieniederer Prozesse des Lesens und für die Rechtschreibentwicklung besonders relevante Modell des Schriftspracherwerbs von Frith (1986) und Günther (1986) wird in Abschnitt 1.5 dargestellt.
1.4 Zur Entwicklung des Leseverständnisses und der Lesekompetenz
Trotz einer Vielzahl unterschiedlicher Facetten und Perspektiven innerhalb der Fachdiskussion um Lesekompetenz besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass kompetente Leserinnen und Leser über weit entwickelte Lesefertigkeiten und ein differenziert ausgeprägtes Leseverständnis verfügen. Darüber hinaus wird von kompetenten Leserinnen und Lesern erwartet, eine inhaltliche Verbindung des Gelesenen mit Vor- und Weltwissen herzustellen, um den inhaltlichen Gehalt eines Textes zu erfassen. Seit der PISA-Studie 2000 ist ein solches am angelsächsischen Begriff der Reading literacy angelehntes Verständnis von Lesekompetenz auch im deutschsprachigen Raum vorherrschend.
Infobox 4: Zum Verhältnis der Begriffe Lesekompetenz, Lesefertigkeit und reading literacy
Lesekompetenz:
Lesekompetenz setzt sich aus der basalen Lesefertigkeit und dem Leseverständnis zusammen und meint die Fähigkeit, Texten relevante Informationen zu entnehmen, Texte zu verstehen, zu bewerten und sie damit zu reflektieren. »Mit Lesekompetenz ist also die generelle Fähigkeit zum Lesen gemeint, die in ihrer Endstufe den eigenständigen Umgang mit unterschiedlichen Textsorten einschließt und dabei in der Regel mehrdimensional konzipiert wird« (Schneider & Tibken, 2018, 72)«.
Lesefertigkeit:
Lesefertigkeit meint die Kompetenz, »Buchstaben in Laute umzusetzen und die entsprechende Wortbedeutung zu entschlüsseln« (Munser-Kirscher & Kirschhock, 2012, 5). Lesefertigkeit ist Bestandteil der Lesekompetenz.
Lesekompetenz und reading literacy:
»Lesekompetenz im Sinne von reading literacy bezieht sich auf die Fähigkeit des Lesers, handschriftliche, gedruckte oder elektronisch dargebotene Texte zu nutzen, um das eigene Wissen und Potential weiterzuentwickeln. Diese Konzeptualisierung impliziert, dass Lesekompetenz sowohl das Verstehen als auch die Nutzung schriftlicher Informationen für praktische Zwecke beinhaltet« (Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, 2018).
Demnach bedeutet Lesekompetenz also, »geschriebene Texte zu verstehen, zu nutzen und über sie zu reflektieren, um eigene Ziele zu erreichen, das eigene Wissen und Potenzial weiterzuentwickeln und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen« (Garbe, Holl & Jesch, 2010, 21). Damit stehen neben der Lesefertigkeit und dem Leseverständnis die Nutzung des Inhalts des Textes für eigene Ziele und gesellschaftlicher Teilhabe im Fokus des Konstrukts Lesekompetenz. Die emanzipatorische und teilhabeorientierte Dimension des Lesens wird hierbei betont. Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist eine zentrale Intention inklusiver Pädagogik und Lesekompetenz hierbei ein wesentliches Element. Auch wenn die Vermittlung von Lesekompetenz über die Vermittlung von Lesefertigkeit und Leseverständnis bzw. von Strategien zur Erfassung des Inhalts eines Textes hinausgeht, sind diese grundlegenden Teilkompetenzen zentrale Ziele des Deutschunterrichts. Zudem ist die Entwicklung von Leseverständnis eng mit der Entwicklung der Lesefertigkeit verbunden. Eine dem lesetechnischen Schwierigkeitsgrad des »Wortmaterials« eines Textes entsprechende Lesefertigkeit ist eine notwendige (aber nicht hinreichende!) Bedingung für das Verständnis eines Lesetextes. Insofern sind Übungen zur Steigerung der Lesefertigkeit ein Beitrag zur Steigerung des Leseverständnisses (
Notwendig für das Verständnis eines Textes sind sowohl Prozesse der Worterkennung bzw. des Wortverstehens als auch des Satzverständnisses. Darüber hinaus verlangt das Erfassen des Sinns eines Textes eine Unterscheidung von zentralen und weniger bedeutsamen Inhalten der gelesenen Sätze sowie eine Zusammenschau der wesentlichen Aussagen und deren Beziehung zueinander. Wie oben bereits beschrieben unterscheidet Lenhard (2013) in seinem Situationsmodell des Leseverständnisses hierarchiehohe und hierarchieniedere Prozesse, die beim Lesen ablaufen. Auf der niederen Hierarchieebene sind alle Teilprozesse und entsprechende