In der alphabetischen Phase erkennen die Kinder, dass zwischen Lauten und Buchstaben ein Bezug besteht, in dem sich bestimmte Phoneme durch feststehende Grapheme abbilden lassen (Stufe 2a). Diese Phase lässt sich in mehrere Unterphasen gliedern. Zunächst gelingt es den Kindern nur unvollkommen, einzelne Laute aus dem Sprachfluss herauszuhören und darzustellen. Es werden lediglich prägnante Merkmale eines Wortes abgebildet, wie beispielsweise der Anlaut und der Hauptvokal in einer Silbe. Mit zunehmender Vermittlung der Phonem-Graphem-Korrespondenzen und Erfahrungen in der Lautdurchgliederung treten die Kinder in das Stadium phonemischer Verschriftlichung ein (Stufe 2b). Nach Studien von Klicpera et al. (2003) lassen sich nach einer präalphabetischen Phase die alphabetische Phase mit geringer Integration, danach die eigentliche alphabetische Phase und die alphabetische Phase mit voller Integration unterscheiden. Die Schreibungen sind rein lautgetreu und können dialektale Besonderheiten widerspiegeln.
Die orthografische Phase ist durch den Eintritt der Erkenntnis, dass beim Schreiben orthografische Regeln beachtet werden müssen, gekennzeichnet (Stufen 3a und b). Zu orthografisch korrekten Schreibungen führen u. a. das Einsetzen der Morphemkonstanz (3b) und der Erwerb phonologischer, morphematischer und orthografischer Strategien. Eine kompetenzorientierte Ausdifferenzierung dieser Phase wird im »Kompetenzmodell Rechtschreibung« (Reber & Kirch, 2013) dargestellt, das den Angaben in der in Kapitel 4 befindlichen Tabelle 5 zugrunde liegt. Abgeschlossen wird das Modell durch die integrativ-automatisierte Phase, die nicht als eine neue Strategie beim Lese-Rechtschreiberwerb angesehen werden soll, sondern als hochkomplexe Fähigkeit des lese-rechtschreibkompetenten Menschen nach dem erfolgreichen Absolvieren der vorangehenden Phasen (Günther, 1986).
Tab. 1: Das Sechsstufenmodell von Frith (Frith, 1986, 225) mit Erweiterung (kursiv) von Günther (Günther, 1989, 15).
Rezeption: LesenProduktion: Schreiben
Ein deutlicher Kritikpunkt an den Stufenmodellen ist, dass wichtige Vorbedingungen für das Lesen- und Schreibenlernen, wie Erfahrungen mit Literacy und der Erwerb metaphonologischer Fähigkeiten, nicht explizit berücksichtigt werden.
Neben den Stufenmodellen gibt es weitere Modellvorstellungen, die den Erwerb des Schreibens erklären. So lassen sich Dual-Route-Modelle, Netzwerkmodelle (Reber, 2009) und die Einteilung in hierarchieniedere und hierarchiehöhere Schreibprozesse (Lindauer & Schmellentin, 2017; Sturm, Nänny & Wyss, 2017) unterscheiden. Dabei werden die basalen, hierarchieniederen Schreibfähigkeiten als mehrdimensionale Konstrukte verstanden. Diese verbinden die beiden Komponenten Formulieren und Transkription mit Prozessen der Automatisierung und des flüssigen Abrufens von sprachlichem Wissen. Automatisiert werden können lediglich die hierarchieniederen Prozesse, da die höheren Fähigkeiten der bewussten Reflexion zugänglich bleiben müssen. Sobald rechtschreibliche Prozesse automatisiert sind, belasten sie kognitive Systeme nur gering und werden auch nicht von anderen Prozessen beeinflusst oder unterbrochen (Sturm et al., 2017).
Innerhalb der Rechtschreibdidaktik herrscht keine Einigkeit darüber, wie Rechtschreibregeln am besten zu vermitteln sind oder auf welchen sprachlichen Analysen eine didaktisch gelingende Vermittlung aufbaut, jedoch wird allgemein akzeptiert, dass Rechtschreibunterricht auf der Grundlage des Sprachsystems und der Grammatik konzipiert werden sollte (Lindauer & Schmellentin, 2017). Interessante Erkenntnisse aus der Schriftspracherwerbsforschung zeigen, dass sich die Vorläuferfähigkeiten zwischen dem Lese- und dem Rechtschreiberwerb unterscheiden. So wiesen Wimmer und Kronbichler (2002) nach, dass Kinder mit isolierter Leseschwäche v. a. Probleme im schnellen Benennen von Zeichen (automatisierter Abruf bekannter Symbole und Grapheme) haben, aber keine Probleme in der phonologischen Sensitivität (Sensibilität für Sprachstrukturen wie Prosodie, Satzmuster usw.). Schülerinnen und Schüler mit isolierter Rechtschreibschwäche zeigen dagegen Schwächen in der phonologischen Bewusstheit und keine Auffälligkeiten im schnellen Benennen. Die Schülergruppen mit (späteren) isolierten Schwächen in der Rechtschreibung oder im Lesen unterscheiden sich somit bereits zu Schulbeginn bezüglich spezifischer Vorläuferfähigkeiten. Diese Erkenntnisse sollten in aktualisierten Modellvorstellungen zum Schriftspracherwerb eine Rolle spielen.
Aus den Modellen zum Schriftspracherwerb lässt sich erkennen, dass Rechtschreibung nicht isoliert vom Leseprozess erworben wird, sondern sich beides gegenseitig beeinflusst. Dieser Einfluss sollte jedoch nicht überschätzt werden, da es eine Reihe von Kindern gibt, die in einer, aber nicht in beiden Modalitäten Probleme aufweisen. Weiterhin wird deutlich, dass die Rechtschreibung eine Kompetenz ist, die sich in aufeinander aufbauenden Phasen stetig weiterentwickelt. Die Dauer einer Phase kann von Kind zu Kind unterschiedlich sein und lässt sich bei vielen Kindern nicht eindeutig den Zeitvorgaben der Rahmenrichtlinien Deutsch (Kultusministerkonferenz (KMK), 2004) zuordnen.
1.6 Zusammenfassung
Ein inklusionsorientierter, Heterogenität in Lernvoraussetzungen berücksichtigender Deutschunterricht und eine angemessene Förderung bei mehr oder minder starken Schwierigkeiten in der Lesefertigkeit, im Leseverständnis und in der Rechtschreibung setzen eine Modellvorstellung über die Vermittlung und Entwicklung dieser Fähigkeiten voraus. Aufgrund der Komplexität und der Unterschiedlichkeit der Prozesse beim Lesen und Schreiben und bei ihrem Erwerb ist eine Zusammenfassung dieser Prozesse in einem Modell wenig hilfreich, da das neue Modell entweder selbst zu komplex oder in einer, einzelne Prozesse komprimierenden Form zu allgemein und daher wenig aussagekräftig wäre. Deshalb wird empfohlen, bei der Unterrichts- und Förderplanung auf spezifische Modelle der Vermittlung und der Entwicklung von Lesefertigkeit, Leseverständnis und Rechtschreibung zurückzugreifen (