1.2 Zur Häufigkeit von Lernschwierigkeiten im Deutschunterricht
Erste Anhaltspunkte für die Abschätzung des Schüleranteils, bei denen eine intensive Lese- und Rechtschreibförderung geboten ist, bieten Studien zur Häufigkeit von Lernstörungen entsprechend des doppelten Diskrepanzkriteriums im Sinne der ICD-10-Definition von »Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten« (Lernstörungen bzw. Teilleistungsstörungen). Plume und Warnke (2007) geben unter Verweis auf die ICD-Kriterien eine Häufigkeit von Lese-Rechtschreibstörungen von 4 % bis 8 % an. Gasteiger-Klicpera und Klicpera (2014) berichten von 4 % bis 7 % lese-rechtschreibschwacher Schülerinnen und Schüler, wohingegen 5 % bis 10 % der Jugendlichen und Erwachsenen das Lesen und Schreiben nicht ausreichend beherrschen, um den Alltag zu meistern. Fischbach et al. (2013) nennen Häufigkeiten von LRS zwischen 3,6 % und 7,3 % nach Durchsicht von neun internationalen Studien aus 20 Jahren. Sie verweisen darauf, dass das Auftreten einer isolierten Lesestörung oder isolierten Rechtschreibstörung vor ihrer eigenen Studie nicht untersucht wurde und lediglich eine Studie über die Häufigkeit von isolierten Lernschwierigkeiten (allerdings ohne Berücksichtigung von Intelligenzwerten) berichtet (isolierte Leseschwierigkeiten 6,4 %; isolierte Rechtschreibschwierigkeiten 7,0 %). Forschungskritisch weisen sie zudem darauf hin, dass je nach Höhe des doppelten Diskrepanzkriteriums bei derselben Stichprobe die ermittelten Prävalenzraten für LRS zwischen 1,4 % und 16,5 % schwanken. Aufgrund dieser und weiterer Schwächen in der bisherigen Prävalenzforschung zu Lernschwächen und Lernstörungen führten sie eine hoch differenzierte, methodisch solide Prävalenzstudie anhand einer deutschen Stichprobe (N=2195) in der Mitte der Grundschulzeit durch, deren Ergebnisse hoch aussagekräftig sind. Hierbei betrachteten sie vor allem Kinder mit mindestens durchschnittlicher Intelligenz (IQ-Werte ≥ 85). Die Gruppe der Kinder mit einer Lernschwäche (T-Wert < 40) im Lesen oder Rechtschreiben teilt sich hiernach wie folgt auf:
• Lese-Rechtschreibschwäche 3,8 %,
• isolierte Leseschwäche 4,6 %,
• isolierte Rechtschreibschwäche 5,7 %,
• kombinierte Lernschwäche 4,2 %.
Hiernach besteht also in der Gruppe der Kinder mit zumindest durchschnittlicher Intelligenz ein Anteil von 18,3 % mit einem Förderbedarf im Lesen und/oder Rechtschreiben. Zählt man zu der Gruppe der Kinder mit Lernschwächen im Fach Deutsch bei zumindest durchschnittlicher Intelligenz eine konservativ geschätzte Gruppe von Kindern mit Schwächen im Fach Deutsch bei unterdurchschnittlicher Intelligenz von 2,9 % (=Häufigkeit der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen in Deutschland in den zurückliegenden Jahren) hinzu, ergibt sich eine Häufigkeit von zumindest 21,2 % im Lesen und/oder Rechtschreiben förderbedürftiger Schülerinnen und Schüler in der Grundschule.
In der Studie von Fischbach et al. (2013) wurde die Häufigkeit von Lernstörungen (erstes Diskrepanzkriterium Schulleistung kleiner als ein T-Wert von 40; zweites Diskrepanzkriterium zumindest 1,2 Standardabweichungen zwischen IQ und Schulleistung, also mindestens 12 T-Wert-Punkte) im Bereich Deutsch bei mindestens durchschnittlicher Intelligenz wie folgt ermittelt:
• Lese-Rechtschreibstörung 2,1 %,
• isolierte Lesestörung 2,6 %,
• isolierte Rechtschreibstörung 4,0 %,
• kombinierte Lernstörung 2,0 %.
Innerhalb der Gruppe der Kinder mit Lernschwächen im Bereich Deutsch bei durchschnittlicher Intelligenz weist also mehr als die Hälfte eine Lernstörung auf: 10,7 % der Gesamtschülerschaft. Neben den ca. 2,9 % der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf gilt es also 10,7 % aller Schülerinnen und Schüler (zusammen 13,6 %) intensiv zu fördern, wobei der Schwerpunkt der Förderung mehrheitlich vermutlich etwas häufiger beim Lesen liegt als beim Rechtschreiben.
Jungen sind etwa eineinhalbmal häufiger von einer isolierten Leseschwäche/-störung oder von isolierten Rechtschreibschwächen/-störungen betroffen, wobei dreimal mehr Jungen unter einem gemeinsamen Auftreten von Lese- und Rechtschreibschwächen/-störungen leiden. Eine kombinierte Lernschwäche im Schriftsprachbereich und im Rechnen kommt bei Mädchen häufiger als bei Jungen vor. Das Geschlechterverhältnis bei kombinierten Lernstörungen ist hingegen ausgeglichen (Fischbach et al., 2013).
Diese Befunde stellen einen inklusionsorientierten Deutschunterricht und ein damit verbundenes Fördersystem vor mehrere Herausforderungen:
• Etwa jedes fünfte Kind bedarf einer besonderen Förderung im Lesen und/oder Rechtschreiben.
• Mindestens jedes siebente Kind sollte intensiv im Lesen und/oder Rechtschreiben gefördert werden.
• In annähernd jeder Klasse kommen ein bis zwei Kinder vor, die sowohl im Rechnen als auch beim Schriftspracherwerb Unterstützung brauchen.
• Die Wahrscheinlichkeit, dass bei einem der Kinder mit einem Unterstützungsbedarf im Deutschen und in Mathematik ein sonderpädagogischer Förderbedarf auftritt, ist etwa 50 %, Mit anderen Worten: Diese Kinder bedürfen frühzeitig intensiver spezifischer Förderung.
• Die vorhandenen Lernschwierigkeiten sollten früh erkannt werden.
• Unterrichtliche und Förderangebote sind für unterschiedliche Leistungsniveaus zu konzipieren, wobei innerhalb der Gesamtgruppe der Schülerinnen und Schüler mit Lernschwierigkeiten mehrere Leistungsniveaus vorkommen (von einem durchschnittlichen Niveau im nicht betroffenen Bereich über vergleichsweise geringe Lernschwächen bis hin zu extrem niedrigen Schulleistungen).
• Ein erheblicher Teil der Kinder mit Lernschwächen bedarf einer längerfristigen Unterstützung und damit einer Förderstrategie, die trotz vorhandener andauernder Lernschwierigkeiten die Freude am Lernen erhält.
1.3 Zur Entwicklung der Lesefertigkeit
Nationale und internationale Vergleichsarbeiten zur Lesekompetenz von Schülerinnen und Schülern und weitere einschlägige Studien (siehe vorheriger Abschnitt) belegen eine breite Leistungsspanne. Weil eine schwache Lese- und Rechtschreibkompetenz nachteilige und diskriminierende Auswirkungen mit sich bringt, gilt es, jedem Menschen Möglichkeiten zur Verbesserung seiner Schriftsprachkompetenz anzubieten. Damit kann eine bessere Teilhabe im individuellen und gesellschaftlichen Kontext ermöglicht werden.
Der Schriftspracherwerbsprozess verläuft über mehrere Jahre und basiert auf weit vor dem Einschulungsalter entstehenden Kompetenzen. Das Kind sammelt in der frühen Kindheit Erfahrungen mit der Sprach- und Schriftkultur. Es beobachtet das Sprachhandeln anderer und probiert sich selbst darin aus. Der erste Umgang mit Bilderbüchern, das Vorlesen, das Malen, eigene schriftähnliche Kritzeleien sowie Lesende und Schreibende zu beobachten, um ihr Verhalten nachzuahmen und zu imitieren, zählen zu den wichtigen frühkindlichen und vorschulischen Aktivitäten. Sie begünstigen den späteren Lese- und Schreiblernprozess in der Schule, indem sie Leseinteresse und -motivation schaffen und erste Kenntnisse im Hinblick auf den Leseprozess vermitteln. Innerhalb der aktuellen Fachdiskussion über Modelle des Leseerwerbs besteht ein Konsens darüber, dass Lesen ein komplexes Fähig- und Fertigkeitenkonstrukt darstellt. Es sind zahlreiche individuelle und soziale Merkmale, die den Gesamtprozess der Entwicklung von Lesekompetenz bestimmen. Einige dieser Merkmale wurden in der frühen Leseforschung, andere erst später innerhalb eines Fachdiskurses zwischen Entwicklungs- und Kognitionspsychologie, Fachdidaktik Deutsch, Linguistik und Sonderpädagogik erkannt. Soziale Einflussfaktoren (Merkmale der Familie, der Peers, der Schule, des kulturellen Lebens, der sozioökonomischen Verhältnisse) sind hierbei im Hinblick auf ihren Einfluss auf den Prozess der Lesekompetenzentwicklung besonders schwierig einzuordnen. Insofern besteht hier weiterhin ein Forschungsbedarf, was auch für