Inklusionsorientierter Deutschunterricht. Kathrin Mahlau. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kathrin Mahlau
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783170347359
Скачать книгу
gilt.

      Die frühere Leseforschung brachte Erkenntnisse, die auf den Leser und seine Grundmerkmale fokussieren. Im Kontext des s. g. additiven Komponentenmodells wurden auf Seiten des Lesers Merkmale identifiziert, die den Leseerwerb beeinflussen. Ob und wie sie miteinander in Beziehung stehen, wurde dabei kaum berücksichtigt. Zu den beobachteten Merkmalen zählen u. a. die sprachliche Intelligenz, das Sprachverständnis, der Wortschatz und das sprachgebundene Gedächtnis (Schneider, 2017). In den 1980er Jahren richtete sich der Fokus der Leseforschung auf der Grundlage von neueren Informationsverarbeitungsmodellen auf die Beschreibung des eigentlichen Lesevorgangs. Zudem definierte die Linguistik aus ihrer Sicht Aufgabenstellungen für die beginnenden Leser und schaffte damit Voraussetzungen, den Leselernvorgang besser zu verstehen. Die Betrachtung linguistischer Einheiten (Phonem, Graphem, Silbe, Morphem) innerhalb des Leseprozesses verdeutlicht beim Lesen, wie eine Buchstabenschrift mit Besonderheiten in der Regularität ihrer Zuordnungen zu verstehen ist.

      Infobox 2: Die Begriffe Phoneme, Grapheme, Silben, Morpheme und Phonem-Graphem-Korrespondenz

      Phoneme:

      Phoneme sind die kleinsten bedeutungsunterscheidenden Einheiten der Lautsprache. Sie haben selbst keine Bedeutung, tragen aber zur Unterscheidung von Bedeutung bei. Phoneme bezeichnen abstrakte Lauteinheiten, die zu einer Bedeutungsveränderung eines Wortes führen. Z. B. ist es irrelevant, ob das r in dem Wort <rund> gerollt (also alveolar im vorderen Bereich oder uvular im hinteren Bereich und weniger gerollt ausgesprochen wird), die Bedeutung bleibt gleich. Anders aber, wenn man den r-Laut durch den m-Laut austauscht, dann verändert sich die Bedeutung (Mund). Die beiden r-Laute gehören zu ein und demselben Phonem /r/, der genannte m-Laut zu einem anderen Phonem, nämlich /m/.

      Grapheme:

      Grapheme sind Buchstaben oder Buchstabengruppen, die mit einem Phonem korrespondieren (Schneider, 2017, 17). So wird z. B. das am Anfang der Wörter <Schiff> und <Spitze> gleich klingende Phonem /ʃ/ einmal mit dem Graphem <sch> und einmal mit dem Graphem <s> dargestellt.

      Silbe:

      Die Silbe stellt die kleinste Lautgruppe im natürlichen Sprechfluss dar. Sie bildet eine rein lautliche Einheit, die unabhängig von ihrer Bedeutung gebildet wird. Das heißt, eine Silbe setzt sich aus einer Gruppe von Lauten im natürlichen Sprechfluss zusammen, welche der Sprecher in einem Atemzug artikulieren kann und durch eine bestimmte Weise der Betonung definiert sind. Man unterscheidet zwischen offenen (endet mit einem Vokal, z. B. <da>) und geschlossenen Silben (endet mit einem Konsonanten, z. B. <das>).

      Morpheme:

      Morpheme, auch Wortbausteine, sind die kleinsten Spracheinheiten, die eine konstante Bedeutung oder grammatische Funktion haben. Sie sind also bedeutungs- bzw. funktionstragend.

      Phonem-Graphem-Korrespondenz:

      Die Phonem-Graphem-Korrespondenzen bzw. Laut-Buchstaben-Zuordnungen beschreiben den Zusammenhang zwischen gesprochenen Lauten und geschriebenen Schriftzeichen. In der deutschen Orthografie ist die Anzahl der Buchstaben und der Phoneme nicht gleich, was auf Unregelmäßigkeiten in den Phonem-Graphem-Zuordnungsregeln hindeutet. Es können einem Laut demzufolge unterschiedliche Symbole (Buchstaben) und umgekehrt zugeordnet werden, z. B. der Laut [k] kann als <k>, <ch>, <ck>, <g>, <x> verschriftlicht werden oder der Buchstabe <a> kann als [a] wie in <Matte> oder als [a:] wie in <Tat> verlautet werden.

      Modelle des Schriftspracherwerbs sollen die hochkomplexen Zusammenhänge des Rekodierens, Dekodierens, des Wort-, Satz- und Textverstehens erklären. In klassischen Entwicklungsmodellen werden qualitativ unterschiedliche Stufen beim Erwerb des Lesens angenommen, die auch Übergänge zwischen unterschiedlich effizienten Lesestrategien beschreiben. Klassische Entwicklungsmodelle erlauben damit Rückschlüsse auf den jeweiligen Entwicklungsstand und den weiteren Entwicklungsverlauf eines Lesenlernenden zu ziehen (Schneider, 2017). Bekannt sind das Stufenmodell von Frith (1985) und das darauf aufbauende erweiterte Entwicklungsmodell von Günther (1986). Im Ursprungsmodell wird von einer logographemischen, einer alphabethischen und einer orthografischen Stufe ausgegangen (image Tab. 1; image Kap. 1.4). Die Modelle von Frith und Günther leisten immer noch einen Beitrag zur Konzeptualisierung von Lehr-, Lern- und Förderkonzepten sowie -materialien. Sie waren und sind für die Schriftspracherwerbsforschung hoch bedeutsam. Aus heutiger Sicht und unter Bezug neuerer Erkenntnisse darf daran Kritik geübt werden. Es muss angezweifelt werden, ob wirklich jedes Kind jede Stufe in der im Modell vorgegeben Reihenfolge durchläuft und ob die Stufen an sich klar voneinander abzugrenzen sind. Auch gilt nicht für alle Buchstabenschriften die gleich hohe Bedeutsamkeit der logographemischen Strategie. Sie ist nach Klicpera und Gasteiger-Klicpera (1993) eher für irreguläre Orthografien, wie z. B. die englische, relevant.

      In der logographemischen Phase lassen sich bereits bedeutsame Vorläuferfähigkeiten des Lesens verorten, also Fähigkeiten, die ein Kind vor dem Beginn des bewussten Lernprozesses von Phonem-Graphem-Regeln erlangt. Das wohl bekannteste spezifische Vorhersagemerkmal der Lesekompetenz ist die frühe phonologische Informationsverarbeitung. Diese gliedert sich in drei Komponenten: Phonologische Bewusstheit (hier: im weiteren Sinne), Kapazität des sprachlichen Arbeitsgedächtnisses und Geschwindigkeit der sprachlichen Informationsverarbeitung (Benennungsgeschwindigkeit) (Schneider, 2017). Im Kontext schulischer Förderung erweist sich insbesondere die phonologische Bewusstheit als gut trainierbar. Es wird zwischen phonologischer Bewusstheit im weiteren und im engeren Sinne differenziert (Skowronek & Marx, 1989). Phonologische Bewusstheit im weiteren Sinne bezieht sich auf größere lautliche Einheiten wie Wörter, Silben und Reime. Sie hat einen sprechrhythmischen Bezug, bildet sich ohne Kenntnis des alphabetischen Prinzips heraus und wird von Kindern in der Regel vor dem Schriftspracherwerb beherrscht (Reime erkennen und bilden, Wörter in Sprechsilben segmentieren u. ä.). Phonologische Bewusstheit im engeren Sinne bezieht sich auf die Phone als kleinste lautliche Einheiten und beinhaltet spezifische Fähigkeiten, die sich in der Regel erst nach den ersten Erfahrungen mit dem orthografischen System entwickeln (z. B. An-, End- und Mittellaute heraushören, Wörter in einzelne Laute segmentieren, Anfangslaute weglassen).

      Zu den basalen Leseprozessen, der Lesefertigkeit, gehören neben den genannten Vorläuferfähigkeiten Rekodier- und Dekodierleistungen, die der Leseanfänger bewältigen muss. Sie zählen in neueren Modellen der Entwicklung der Lesekompetenz zu den hierarchieniederen Prozessen (Lenhard, 2013).

      Infobox 3: Die Begriffe Rekodieren und Dekodieren

      Rekodieren:

      Beim Rekodieren, auch Lautieren, wird einer Buchstabenfolge die regelkonforme Lautfolge zugeordnet. Dies erfolgt ohne Bedeutungserfassung.

      Dekodieren:

      Beim Dekodieren wird dem Rekodierten bzw. dem Lautierten eine Bedeutung zugeordnet.

      Die Modelle zur Entwicklung der Lesefertigkeit beschreiben zunächst die mühsame und langsame Verbindung von Buchstaben und Lauten (Rekodieren). Durch stetige Wiederholung und Übung wird das simultane Erfassen dann auch von größer werdenden Texteinheiten (Silben, Wortteile) zunehmend schneller und sicherer. Der Weg führt von den kleinsten Einheiten, den Phonemen und Graphemen in Verbindung mit der Entwicklung der phonologischen Bewusstheit im engeren Sinne über größer werdende Einheiten hin zu Wörtern. Enthält der Wortschatz des Kindes das gelesene Wort, kann es dieses richtig dekodieren, also in seiner Bedeutung erfassen. Beherrscht ein Kind die Phonem-Graphem-Korrespondenzen, kann es sowohl sinnvolle wie auch sinnfreie Wörter (Kunstwörter oder Pseudowörter) korrekt rekodieren. Das klingt einfach, dahinter stehen allerdings komplexe kognitive Anforderungen, die parallel und möglichst flüssig ablaufen müssen. Nur durch eine zunehmende Automatisierung der Teilprozesse können Wortbilder den Lautfolgen und ihren Bedeutungsinhalten unmittelbar zugefügt werden (visuelle Worterkennung) und somit der Leseprozess stark erleichtert werden. Auf diese Weise werden Ressourcen