1 Kinder mit Lernschwierigkeiten beim Schriftspracherwerb
Auch im Zeitalter einer zunehmenden Digitalisierung sind Lesen und Schreiben entscheidende Fähigkeiten menschlicher Kommunikation und grundlegende Elemente gesellschaftlichen Lebens. Als zentrale Kulturtechniken bestimmt der Grad ihrer Beherrschung den individuellen Lebensweg und die Teilhabe eines Menschen in der Gesellschaft nachhaltig (Schneider, 2017). Die Lese- und Schreibkompetenz hat einen weitreichenden Einfluss auf die schulischen Leistungen in allen Fächern und damit auf den Schulerfolg und den weiterführenden Bildungs- und Ausbildungsweg. Es ist nicht zu akzeptieren, dass in einer hoch entwickelten, von Wissen, Erkenntnissen und Technologien durchwobenen Gesellschaft die Anzahl der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen mit deutlichen Schwierigkeiten im Lesen und in der Rechtschreibung sehr hoch ist: Zumindest ein Fünftel aller deutschen Schülerinnen und Schüler weisen erhebliche Schwierigkeiten in der Beherrschung der Schriftsprache auf (
Angeregt durch Schulleistungsstudien, die die Lese- und Rechtschreibprobleme an deutschen Schulen sichtbar machen, und die Zielsetzung einer fördernden, unterschiedliche Lernvoraussetzungen berücksichtigenden inklusiven Schule, steigt gegenwärtig in der Praxis und in der Bildungspolitik das Interesse
• an aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Grundlagen des Schriftspracherwerbs und
• daraus resultierendem Wissen über die Früherkennung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten und frühe Hilfen sowie
• an nachweislich erfolgreichen Förderstrukturen, -systemen und -materialien.
In diesem Buch geht es neben der Darstellung zentraler Ergebnisse der Forschung über die Entwicklung der Lesefertigkeit, des Leseverständnisses und der Rechtschreibung um das frühe Erkennen von im Hinblick auf ihren Schulerfolg im Schriftspracherwerb gefährdeten Schülerinnen und Schülern sowie ihrer individuellen Lernausgangslage und um wirksame Fördermöglichkeiten. Diese Erkenntnisse werden im Zusammenhang mit einem wissenschaftlich gut bewährten, anpassungsfähigen Fördersystem dargestellt. Denn dieses gewährleistet erst die systematische Nutzung aktuellen Wissens in der Praxis.
Als robustes, an heterogene Lernausgangslagen anpassungsfähiges Fördersystem hat sich im angelsächsischen Sprachraum (insbesondere in den USA und Kanada) der Response-to-Intervention-Ansatz (RTI-Ansatz) bewährt (Blumenthal, 2017; Hartke, 2017a;b; Hartke & Diehl, 2013; Grosche & Volpe, 2013; Huber & Grosche, 2012; Voß, Blumenthal, Mahlau, Marten, Diehl, Sikora & Hartke, 2016). Hierbei handelt es sich um ein pädagogisches Rahmenkonzept mit dem Ziel bestmöglicher Fördererfolge (Response) aufgrund einer passgenauen Förderung innerhalb des Unterrichts und durch zusätzliche Maßnahmen (Intervention). Innerhalb dieses Ansatzes ist die Arbeit auf mehreren Förderebenen eines der zentralen Elemente. Es findet Förderung innerhalb des Unterrichts statt (Förderebene I). Im erfolgreichen schulischen Lernen gefährdete Schülerinnen und Schüler erhalten einen zusätzlichen, auf ihre Förderbedarfe abgestimmten (spezifischen) Förderunterricht (Förderebene II). Bei deutlichen Schulschwierigkeiten, trotz Förderung auf den Förderebenen I und II, werden die Schülerinnen und Schüler durch hoch spezialisierte Fachkräfte intensiv gefördert (Förderebene III).
Diese Mehrebenenarbeit bzw. Mehrebenenprävention ermöglicht eine genaue Zuordnung von Kindern mit unterschiedlichen Förderbedarfen zu geeigneten Fördermethoden auf der Basis einer wissenschaftlichen Diagnostik. Die Mehrebenenstruktur des Fördersystems RTI ist das »Vehikel« für eine systematische Implementation von geeigneten Interventionen für jeweils unterschiedliche Kinder und Jugendliche.
In diesem Band dargestellte Inhalte, Methoden und Verfahren bieten Erklärungen für unterschiedliche Förderbedarfe innerhalb der Entwicklung von Lese- und Rechtschreibkompetenz. Zudem werden Handlungsmöglichkeiten auf jeder der genannten Förderebenen bzw. für unterschiedliche Zielgruppen innerhalb eines inklusiven Deutschunterrichts in der Grundschule vorgestellt. Viele der genannten Handlungsmöglichkeiten eignen sich auch für sich anschließende Klassenstufen der Sekundarstufe I (zumindest für die Klassen 5 und 6).
Infobox 1: Kurzbeschreibung des Response-to-Intervention-Ansatzes (RTI-Ansatz)
Zusammenfassend lässt sich der RTI-Ansatz folgendermaßen beschreiben:
• Es findet eine Förderung auf mehreren Förderebenen (bzw. -stufen) statt. In der Praxis kommen vor allem dreistufige Fördersysteme vor. Mit jeder zunehmenden Förderebene steigt der Grad an Intensität und Spezifität der Förderung.
• Mithilfe regelmäßig durchgeführter Screeningverfahren (meist mehrfach im Schuljahr einsetzbare standardisierte und normierte Tests) wird die Lernausgangslage aller Schülerinnen und Schüler erfasst. Die Ergebnisse werden zuallererst für die Förderebenenzuordnung genutzt.
• Der Erfolg und damit die Wirksamkeit von Unterricht und Förderung wird in kurzen Abständen überprüft. Hierzu dienen in der Regel wöchentlich bis monatlich einsetzbare Kurztests. Diese dauern meist ein bis drei Minuten und führen zu einer Lernverlaufsdokumentation, an der abzulesen ist, ob Lernfortschritte vorhanden sind und wie stark sie ausfallen. Diese Kurztests heißen curriculumbasierte Messverfahren (CBM).
• Die Ergebnisse der Screenings und der CBM sowie von Beobachtungen oder Dokumentenanalysen bilden die Grundlage für die Unterrichts- und Förderplanung (einschließlich der Förderebenenzuordnung).
• Die auf den unterschiedlichen Förderebenen angebotenen Maßnahmen bzw. die dort verwendeten diagnostischen Verfahren, Förderprogramme und Materialien wurden nach ihrem wissenschaftlichen Bewährungsgrad ausgewählt.
• Falls im Einzelfall bisherige Maßnahmen nicht ausreichen, erfolgt eine Intensivierung und Spezifizierung von Diagnostik und Förderung auf der nächsthöheren Förderebene.
• RTI als Rahmenkonzeption für eine systematische inklusive Förderung zielt auf möglichst zeitnahe Hilfen bei entstehenden Schulleistungsrückständen (»Förderung von Anfang an«), kontinuierliche Förderung und ein Mindern von Leistungsrückständen (»No child left behind«) ab. In Einzelfällen kann die Förderung die gesamte Schulzeit umfassen, wobei die Intensität und Spezifität der Förderung zeitlich stark wechseln kann. Bei einer Vielzahl von Schülerinnen und Schülern soll die Förderung nur temporär sein.
• Es finden regelmäßige Teambesprechungen aller in Bezug auf eine Schülerinnen- und Schülergruppe beteiligten Pädagoginnen und Pädagogen zwecks Abstimmung von Förderzielen, Methoden und Arbeitsteilung statt.
Die in der Infobox 1 im Überblick skizzierten zentralen Elemente von RTI als Rahmenkonzeption für eine gelingende schulische Förderung werden ausführlich in Hartke (2017a) erläutert. Erste positive Evaluationsergebnisse im deutschsprachigen Raum finden sich bei Voß et al. (2016). In dem hier vorliegenden Buch werden eine Vielzahl an Handlungsmöglichkeiten eines inklusiven Deutschunterrichts aufgezeigt, die sich zentralen Elementen des RTI-Ansatzes zuordnen lassen. Dies ist beabsichtigt, denn nach jetzigem Erkenntnisstand stellt dieser Ansatz gegenwärtig eine der wenigen erfolgsversprechenden Möglichkeiten dar, das aktuelle Bildungssystem so zu reformieren, dass ein gemeinsamer Unterricht trotz deutlicher Lern- und Entwicklungsschwierigkeiten einer Vielzahl von Schülerinnen und Schülern gelingt.
Der hier favorisierte RTI-Ansatz kann leicht missverstanden werden. So werden die innerhalb des Ansatzes besonders wichtigen CBM fälschlicherweise als summative Evaluationen des Leistungsstandes aufgefasst, die einer möglichst präzisen Leistungsbeurteilung dienen. Die zentrale Funktion der CBM ist hingegen die formative Evaluation (Hattie, 2013) des bisherigen pädagogischen Handelns! Die Erfassung des Lernerfolgs dient als Hinweis für die Einschätzung der Qualität der Passung von Unterricht und Förderung