Ignoranz dessen, was in den Köpfen von Tieren vorgeht, kommt allerdings überall vor: So gut wie jeder hat eine feste Meinung zum Geistesleben von Tieren, unabhängig von seinem Wissensstand zu diesem Thema. Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich großes Mitleid mit einem Hund, der eine offensichtlich schmerzhafte medizinische Behandlung ohne Anästhesie über sich ergehen lassen musste. »Och, der kann gar nichts spüren,« sagte sein Besitzer. »Es ist nur ein Hund.« Das andere Ende des Spektrums ist ebenso einfach zu finden und ebenso erstaunlich. Ich hatte einmal eine Kundin, die mir geradeheraus erklärte, ihr Hund würde deshalb so zwanghaft mit den Pfoten um seinen Fressnapf herum kratzen und scharren, weil er wüsste, wann ihre Mutter zu Besuch käme. Die Mutter war eine sehr gewissenhafte Hausfrau und die Kundin dachte, der Hund wolle ihr saubermachen helfen, bevor sie eintraf. Ich erinnere mich an keine weiteren Einzelheiten der Erklärung, weil ich sehr damit beschäftigt war, meinem Gesicht keine Regung anmerken zu lassen. In Wie Hunde denken und fühlen erzählt Stanley Coren eine zum lauthals Lachen anregende Geschichte. Ein Rechtsanwalt rief ihn an und bat ihn, den Akita zu interviewen, der in den Mordfall O. J. Simpson mit verwickelt gewesen war und zitiert, was er wörtlich sagte: »Können Sie nicht einfach herkommen und den Hund befragen?«
Die gleiche schwindelerregende Bandbreite an verschiedenen Meinungen können Sie auch in Ihrem eigenen Leben finden. Beginnen Sie einfach damit, sich genau auf das zu konzentrieren, was Sie hören und lesen. Sie werden feststellen, dass es kaum oder keine Bereiche in Wissenschaft oder Volksglauben gibt, in denen solch eine Bandbreite unterschiedlicher Meinungen zu finden ist. Es ist so, als ob einige Menschen, von Wissenschaftlern bis hin zu Hundebesitzern, glauben würden, die Erde sei eine Scheibe und alles Leben würde an deren Rand enden, während andere daran forschen würden, wie und warum sich das Universum ins Unendliche ausdehnt. Ich frage mich, ob diese extrem ausgeprägte Meinungsvielfalt bedeutet, dass wir über etwas sprechen, das für uns sehr wichtig ist, über das wir aber wenig wissen. Es erinnert mich an die bitteren Debatten des 19. Jahrhunderts, als Darwin vorbrachte, Tiere seien durch den Prozess natürlicher Selektion entstanden und der Mensch habe gemeinsame Vorfahren mit den Affen. Die Vorstellung, zwischen Tier und Mensch könne irgendeine Form von Kontinuität bestehen, erschreckte die Menschen so tief in ihrem Glauben von der Einzigartigkeit des Menschen, dass Streitgespräche zu diesem Thema häufig und hitzig geführt wurden (wie das auch heute noch der Fall sein kann). Eine meiner Lieblingsbemerkungen aus Darwins Zeit stammt von der Frau des Bischofs von Worcester, die gesagt hatte: »Von Affen abstammend! Du meine Güte, lass uns hoffen, dass das nicht stimmt. Aber falls es stimmt, lass uns hoffen, dass es nicht allzu bekannt wird.«
Vielleicht sind ihre Befürchtungen auch heute noch von Bedeutung. Vielleicht ist es Furcht, die einige der Kritiker antreibt – denn je mehr wir über die mentalen Vorgänge von Tieren wie unseren Hunden herausfinden, desto mehr müssen wir unser Verhältnis zu ihnen in Frage stellen. Arien Mack schreibt in Humans and Other Animals, dass »die Schilderung von Mensch-Tier-Beziehungen in allen Kulturen vorkommt und dass die Ziehung dieser Grenze in allen Kulturen eine Frage von großer Wichtigkeit ist.« Neu definieren zu müssen, wer wir in Bezug zu dem neben unseren Füßen liegenden Hund oder zu dem Pferd im Stall nebenan sind, kann eine Angst machende Aussicht sein. Kein Wunder dass sie so viel Streit verursacht.
WIE SIE ZUR JANE GOODALL IHRES WOHNZIMMERS WERDEN
Eine Sache gibt es, die unter Hundefreunden nicht umstritten ist: Wir möchten schlicht und einfach wissen, was im Kopf unserer Hunde vorgeht. Wir erwarten gar nicht, dass sie das Gleiche über die Welt denken und fühlen wie wir. Eher möchten wir wissen, wie viele Erfahrungen wir mit unseren Lukes, Gingers und Goldies gemeinsam haben. Also stellen wir alle Mutmaßungen über die Gedanken und Gefühle unserer Hunde an. Das ist unvermeidlich.
Unsere Mutmaßungen fußen auf verschiedenen Faktoren. Manche davon sind gut und objektiv, wie zum Beispiel eine sorgfältige Beschreibung der Mimik unseres Hundes, seiner Körperhaltung und seines Verhaltens. Andere Faktoren können von unseren eigenen Erfahrungen und Erwartungen eingefärbt sein und zu Fehlannahmen darüber verleiten, was im Verstand unserer Hunde vorgeht. Solche Fehler verschaffen dem Thema »Denken bei Tieren« neue Kritiker – Überzeugungen wie die, dass Pferde Mathematik beherrschen könnten oder dass der Hund vor dem Besuch der Mutter aufräumen helfen würde, haben nicht gerade dazu beigetragen, Skeptiker davon zu überzeugen, dass man das Thema objektiv betrachten könne.14
Es stimmt, dass wir alle bis zu einem gewissen Maß unsere eigenen Gefühle in unsere Hunde hinein projizieren. Das ist die schlechte Seite unserer bemerkenswerten Fähigkeit zum Mitfühlen und kann zu endlos vielen Problemen führen, wie wir im Verlauf des Buches noch sehen werden. Das entgegengesetzte Problem – die Nichtbeachtung dessen, was Hunde ausdrücken – ist aber ebenfalls nur zu verbreitet, selbst unter Menschen, die ihre Hunde wirklich sehr lieben. Auch wenn man schon viele Jahre als Hundetrainer arbeitet, ist es immer wieder erstaunlich zu sehen, wie Menschen, die ganz verschossen in ihre Hunde sind, ganz offensichtliche Signale in deren Gesicht entgehen. In jeder einzelnen Stunde werden Sie jemand sehen, der seinen Hund enthusiastisch »lobt«, während der Hund vor Angst oder Abscheu regelrecht zusammenschrumpft. In gewissem Maße passiert das aus Unkenntnis dessen, was der jeweilige Körper- und Gesichtsausdruck beim Hund bedeutet. Manchmal liegt es aber auch daran, dass wir einfach zu wenig darauf achten, was der Hund uns mitzuteilen versucht – genauso, wie wir manchmal zu wenig auf das Gesicht unserer menschlichen Freunde achten, wenn wir zu sehr mit unseren eigenen Gedanken beschäftigt sind. Exakte, objektive Beobachtung ist eine Fertigkeit, die man üben muss, aber sie beginnt damit, dass Sie Ihren Verstand bitten, sich darauf zu konzentrieren, was Sie sehen – und nicht darauf, was das Ihrer Meinung nach bedeuten könnte. Wenn Sie nur ein wenig Zeit und Energie darauf verwenden, Ihr Gehirn daran zu erinnern, doch bitte exakte und objektive Beobachtungen zu machen, kann das die Beziehung zu Ihrem Hund radikal verbessern. Der folgende Abschnitt möchte Sie ermutigen, Ihr eigener Feldbiologe zu werden und zu üben, wie Sie durchdachte, detaillierte Beschreibungen des Verhaltens Ihres Hundes anfertigen. Je besser Sie darin werden, desto besser werden Sie auch Probleme vermeiden können, die damit zu tun haben, Hunden Gefühle zuzuschreiben. Und außerdem werden Sie jener Art von Beziehung zu Ihrem Hund näher kommen, die wir uns alle wünschen.
Sie werden in guter Gesellschaft sein. Alle Studenten des Tierverhaltens, egal ob sie sich auf das Lernverhalten spezialisieren oder auf die Einflüsse von Genetik und Umwelt auf das Verhalten, werden streng dazu ausgebildet, in der Beobachtung von Verhalten genau zu sein. Das klingt einfach, ist es aber nicht. Es braucht Konzentration und Übung, um die Aktionen eines Tieres genau zu beobachten, aber noch viel schwieriger ist es, die nötige Disziplin zu entwickeln, um ein Verhalten objektiv zu beschreiben anstatt eine Annahme darüber wiederzugeben, was das Tier dabei denken oder fühlen könnte. Als Beispiel hier ein sehr häufiges Szenario: »Was tut denn Ihr Hund Murphy genau, das Ihnen Probleme bereitet?«, könnte ich zum Beispiel einen Kunden fragen. »Na ja,« sagt der Kunde, »er wird wahnsinnig, wenn Besuch kommt.« »Was genau tut er, wenn Sie sagen er wird wahnsinnig?« Ich frage nach und versuche mir ein Bild davon zu machen, was der Hund eigentlich wirklich tut. »Na ja, er verliert einfach völlig den Verstand, wissen Sie, er gerät total außer Kontrolle.« »Könnten Sie mir bitte genau sagen, wie Murphy sich verhält, wenn Besuch kommt und er so aussieht als wäre er außer Kontrolle?« frage ich. »Ich sage Ihnen doch, er wird einfach verrückt …«
Dieses Gespräch könnte endlos fortgesetzt werden und ich hätte noch immer keine Ahnung davon, was genau der Hund eigentlich tut. »Wahnsinnig werden« sagt mir nichts über seine Handlungen – »wahnsinnig werden« könnte bedeuten, dass er sich zitternd in eine Ecke drückt, oder ebenso gut, dass er dem Besuch auf die Schulter zu springen versucht, oder vielleicht, dass er mit hervorquellenden Augen in die nächstbeste fassbare Wade zu beißen versucht. Ich habe mir deshalb angewöhnt, meinen Kunden zu sagen: »Stellen Sie sich vor, dass Sie ein Video anschauen und beschreiben Sie mir genau, was Sie sehen, wenn Ihr Hund Gäste begrüßt.« Das hilft ein wenig, wenn auch der beste Weg in diesem Fall wäre, selbst einmal den Besucher für diesen Hund zu spielen. Deshalb betonen