Manche Menschen sind wirklich gut darin, die visuellen Signale ihrer Hunde zu lesen. Einige meiner Kunden beobachten so gut, dass sie gefährliche Hunde aus Schwierigkeiten heraushalten können: Sie bemerken, wie ihr Hund sich anspannt, bevor er etwas unternimmt. Andere sind – ich weiß wirklich nicht, wie ich das anders sagen soll – Analphabeten in Sachen Hundesprache. Die Fähigkeit, aus Gesicht und Körperhaltung eines Hundes lesen zu können, scheint nichts damit zu tun haben, wie sehr jemand seinen Hund liebt. Ich hatte Kunden, die ihren Hund geradezu vergötterten, und während sie darüber plauderten, wie fröhlich ihr Lucky stets rund um die Uhr und jeden Tag sei, strich der gleiche Lucky mit angespanntem, ängstlichem Gesicht durch mein Büro.
Nicht nur bei Hundebesitzern gibt es unterschiedlich stark ausgeprägte Fähigkeiten zum Erkennen dessen, was andere ausdrücken. Es überrascht nicht, dass einige von uns besser darin sind als andere, die Gesichtsausdrücke ihrer Mitmenschen zu deuten. Introvertierte Persönlichkeiten können Gesichts- und Körperausdruck anderer besser deuten, während Extrovertierte eher sich selbst ausdrücken. Nach Paul Ekman, der vierzig Jahre lang rund um die ganze Welt Gesichtsausdrücke von Menschen studiert hat, sind Frauen und Männer im Lesen der Mimik anderer gleich gut, aber zwischen den Individuen beider Geschlechter gibt es erhebliche Unterschiede. Hundetrainern ist die ganze Skala bekannt: Von Menschen, die Hunde wie ein offenes Buch lesen können bis hin zu denen, die fast gar nichts zu bemerken scheinen. Dies sollte nicht überraschen, denn auch andere Tiere sind unterschiedlich gut im Erkennen von Mimik. Die Primatologin Barbara Smuts beschreibt einen männlichen Grünen Pavian, den die weiblichen Tiere sehr begünstigten, weil er besonders gut darin war, subtile Anzeichen ihrer gefühlsmäßigen Verfassung zu erkennen.
ÜBUNG MACHT DEN MEISTER
Egal, in welchem Bereich der Skala Sie sich wiederfinden – die gute Nachricht ist, dass Übung einen erheblichen Anteil an der Fähigkeit zum Lesen von Ausdrucksverhalten und Mimik bei Mensch oder Hund hat. Ich werde jedes Mal daran erinnert, wenn ich einen bestimmten Filmausschnitt zeige, in dem ein Junghund über einem gestohlenen Spielzeug kauert. Die Hundetrainer unter den Zuschauern werden aufmerksam, wenn sie sehen, wie das Gesicht des Hundes unbeweglich wird und seine Augen groß werden, weil sie wissen, was als Nächstes kommt. Die übrigen Zuschauer sehen sich den Film nichtsahnend schweigend an und schrecken geschockt auf, wenn der Hund knurrend auf seinen Besitzer losspringt. Der Profi weiß, dass »Einfrieren« zusammen mit gerundeten Augen eine Drohgeste ist, aber weil der Hund weder knurrte noch seine Zähne zeigte, waren die unbedarften Zuschauer von seinem Angriff überrascht.
In Hundeschulen sind jeden Tag abgeschwächtere Versionen dieser Begebenheit zu sehen. Am häufigsten sieht man den Ausdruck von Missfallen im Gesicht von Hunden, während deren nichtsahnende Besitzer etwas tun, das dem Hund ihrer Meinung nach gefällt. Ob sie einem berührungsempfindlichen Hund oben auf den Kopf tätscheln (»Sie mag das total gern,« sagt der Besitzer, während der Hund sein zur Grimasse verzogenes Gesicht zur Seite wegdreht) oder einen geräuschempfindlichen, sich ängstlich duckenden Spaniel mit »Guter Hund!« anschreien: Besitzer, die ihre Hunde ansonsten wirklich lieben, übersehen Signale ihrer Hunde, die für erfahrenere Menschen so offenkundig sind wie ein Feuerwerk.
Mir ist keine wissenschaftliche Untersuchung zu unserer Fähigkeit zum Lesen der hündischen Gesichtsmimik bekannt, aber viel wurde dazu geforscht, wie wir die Gesichter anderer Menschen lesen können. Einige dieser Erkenntnisse können uns auch helfen, unsere Hunde besser zu verstehen. So kommt beispielsweise Studie um Studie zu dem Schluss, dass jemand desto feinere Signale im Gesicht seines Gegenüber interpretieren kann, je mehr Übung er im Erkennen der Mimik hat. Ein gutes Beispiel dafür ist, wie wir erkennen, ob jemand lügt – ein Verhalten, mit dem wir sicherlich alle schon viel Erfahrung gemacht haben. Die am einfachsten zu entdeckende Form von Unehrlichkeit ist ein unechtes Lächeln. Ein echtes Lächeln geht weit über den Mund hinaus und bezieht auch die Muskeln rund um die Augen mit ein, während ein unehrliches Lächeln meistens nur mit Mundbewegungen einhergeht.
Die meisten von uns sind sich dieses Unterschiedes bei sich selbst nicht bewusst, aber bei anderen können wir deutliche Beispiele von echtem und unechtem Lächeln leicht entdecken und mit der Zeit, wenn wir stärker darauf achten und mehr Übung bekommen, auch richtig gut darin werden, feinere Anzeichen zu erkennen.
WENIGER KANN MEHR SEIN
Dass die meisten von uns nicht so gut im Entlarven von Lügnern anhand deren Mimik sind, wie wir es gerne wären, liegt daran, dass man uns nicht gelehrt hat, auf die feinen Veränderungen des Gesichtsausdruckes zu achten, die selbst bei geübten Lügnern auftreten. Die besten menschlichen Lügendetektoren sind Geheimdienstagenten und klinische Psychologen, die zum Thema Lügen forschen. Nur diese Menschen können zuverlässig Unehrlichkeit erkennen, und es ist ihre Ausbildung und Erfahrung, die sie in diese Lage versetzt. Wir anderen sind darin nicht so gut, wie wir denken. Die Eltern unter den Lesern sollten das bedenken.
Je mehr Übung und Erfahrung Sie im Lesen der Mimik von Menschen und Hunden haben, desto besser ist Ihr Gehirn in der Lage, sich auf die wichtigen Signale zu konzentrieren und die unwichtigen zu ignorieren. Ihr Gehirn wird pausenlos mit Informationen überschwemmt, von denen nur ein Bruchteil für ein bestimmtes Thema wichtig ist.
Wie sich herausstellt, ist in vielen Situationen nur ein ganz kleines Stückchen Information nötig – solange es das richtige Stückchen ist. Die Wissenschaftler, die dieses Phänomen entdeckt haben, nennen es »thin slicing« (wörtlich: In dünne Scheibchen schneiden): Das Gehirn schneidet sich nur diejenige dünne Scheibe an Information heraus, die gerade wichtig für es ist. Ein Beispiel dafür ist, wie jemand seinen verlorenen Ehering im Wald wiederfindet, weil er sich auf nichts anderes konzentriert als auf »glänzend« und alles andere ausblendet. Die Hundetrainer, die das oben zitierte Video anschauten, verwendeten ebenfalls die Technik des in dünne Scheibchen Schneidens, weil sie wussten, dass »plötzliches Bewegungsloswerden mit geschlossenem Fang« alles war, das sie wissen mussten, um den Angriff vorherzusehen.
»Thin-Slicing« wird am besten in den Arbeiten des Psychologen John Gottman veranschaulicht, der jahrzehntelang die Interaktionen zwischen Ehepaaren beobachtet hat.15 Nachdem er bei über dreitausend Paaren gelauscht hat, kann Gottman heute Ehepartnern bei einem einstündigen Gespräch über belanglose Themen zuhören und dann mit 95 %iger Genauigkeit vorhersagen, ob sie in fünfzehn Jahren noch verheiratet sein werden. Andere Menschen, darunter selbst Eheberater, können nichts weiter tun als vermuten, weil sie nicht gelernt haben, welche visuellen oder verbalen Signale eine gesunde Beziehung kennzeichnen. Nachdem Gottman und seine Kollegen jahrelang winzige Veränderungen im Gesichtsausdruck und im Tonfall analysiert hatten, fanden sie heraus, dass Zeichen für Verteidigungshaltung, Blockade, Kritik und Verachtung Warnsignale für drohendes Unheil sind. Aber alles, was sie wirklich sehen müssen, ist der Ausdruck von Verachtung bei einem der Partner (stellen Sie sich jemanden vor, der, wenn auch nur ganz leicht, die Augen rollt), um zu wissen, dass die Ehe zum Scheitern verurteilt ist. Egal, wie oft sich die Ehepartner anlächeln, lachen oder sich berühren – wenn einer von ihnen mit einer feinen Geste Verachtung gegenüber dem anderen äußert, könnten beide ebenso gut gleich zum Scheidungsanwalt gehen und es hinter sich bringen.
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