Der Verkehrspolizist. Dieter Schäfer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dieter Schäfer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Философия
Год издания: 0
isbn: 9783864766664
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Sachverhalt gleich ist, bildet sich eine Verwaltungspraxis aus. Danach soll jeder Sachverhalt im Wesentlichen gleichbehandelt werden.

      Was aber, wenn sich schleichend eine Verwaltungspraxis etabliert, die objektive Mängel aufweist? Meist entstehen diese im Bereich der Ermessensausübung und im weiten Feld der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen und der angewandten Mittel. Hierfür wurden die Instrumente der Dienst- und Fachaufsicht geschaffen. Erstere dient dazu, das subjektive Verwaltungshandeln des Amtsträgers, also sein Handeln selbst, zu überprüfen. Die Zweite soll gewährleisten, dass Verwaltungshandeln auch im Laufe der Zeit rechtmäßig bleibt.

       Fall 1: Führerschein nicht mitgeführt – was dann?

      Es war im Winter 1986/87, einer Zeit ohne Smartphone und Internet, während meines Kommissar-Studiums. Meine Schwägerin bat mich empört um Rat. Sie war mit dem Auto ihres damaligen Freundes an einem Samstag in eine Verkehrskontrolle zwischen Heddesheim und Mannheim geraten und hatte ihren Führerschein nicht dabei. Was ihr dabei widerfuhr, konnte sie nicht glauben.

      Ihr Freund, der Fahrzeughalter, saß mit einem Gehgips von einer Skiverletzung auf dem Beifahrersitz. Der Kontrollbeamte erklärte ihr, dass er einen Verdacht des Fahrens ohne Fahrerlaubnis nicht ausschließen könne. Am Wochenende sei eine Überprüfung der Angaben meiner Schwägerin bei der zuständigen Führerscheinstelle nicht möglich, weshalb er ihr die Weiterfahrt untersage, bis sie ihm den Besitz der Fahrerlaubnis nachweisen könne. Das könne durch Vorlage des Führerscheines beim Polizeirevier an ihrem Wohnort erfolgen. Außerdem behalte er bis dahin den Fahrzeugschlüssel, da ein Berechtigter nicht verfügbar sei und er eine Gefahr einer fortgesetzten Verkehrsstraftat sehe.

      Es war kalt, der Kontrollort war außerhalb einer Ortschaft und ihr Freund hatte das Bein eingegipst. Auf die Frage, wie sie denn jetzt weiterkommen solle, gab ihr der Beamte den Rat, sie solle ein Taxi rufen. Meine Schwägerin fragte, wo sie denn jetzt eine Telefonzelle50 finden sollte? Der Beamte wies nur mit dem Blick in die nächste Ortschaft und das war’s dann.

       Theorie und Wirklichkeit

      Gegen Ende eines Fachhochschulstudiums für Polizei hast du viel über die verfassungsmäßig garantierten Grundsätze des Mindesteingriffs und der Verhältnismäßigkeit gehört und verinnerlicht, sodass dich eine solche Polizeipraxis ziemlich fassungslos macht.

      Ich setzte mich also hin und verfasste für meine Schwägerin eine Dienst- und Fachaufsichtsbeschwerde und zog dabei alle argumentativen Register.

      Wenige Wochen später erhielt sie einen Bescheid des Polizeipräsidenten von Mannheim. Er erklärte ihr, dass sein Beamter den Anfangsverdacht einer Straftat hatte und deshalb so handeln musste. Die Maßnahmen seien nicht unverhältnismäßig gewesen. Das Schreiben schloss mit einer Bemerkung, die ich nicht vergessen werde: „Und hätten Sie sich verkehrsgerecht verhalten, wäre Ihnen das nicht passiert.“

      Ich war so aufgewühlt und entsetzt, dass ich mir damals schwor, wenn ich je in meiner Laufbahn die Gelegenheit haben würde, dies abzustellen, würde ich das tun.

      Der Volksmund sagt, man trifft sich immer zweimal im Leben. Das Schicksal wollte es, dass ich im Frühjahr 1995 zum Leiter der Inspektion Verkehr beim Polizeipräsidium Mannheim bestellt wurde.

      Und der Tag kam, als ein junger Mann aus Lampertheim, Sohn eines Autobahnpolizisten in Hessen, mit seinem schnittigen Coupé in eine allgemeine Verkehrskontrolle eines mir unterstellten Verkehrspolizisten kam. Er führte seinen Führerschein nicht mit. Hinweise auf seine Person gab sein ausgehändigter Werksausweis. Das Autokennzeichen hatte als Buchstaben die Initialen seines Vor- und Zunamens und er gab an, dass sein Vater Polizist in Hessen sei.

      Der Beamte war gnadenlos konsequent. Er beschlagnahmte den Fahrzeugschlüssel und verwies den bei kühlen Temperaturen nur leicht bekleideten jungen Mann für ein Weiterkommen auf die Haltestelle des öffentlichen Nahverkehrs unweit des Kontrollortes. Der Vater des jungen Mannes rief später beim Dienstgruppenführer des Kontrollbeamten an. Er gab sich als Kollege zu erkennen und nannte seine Dienststelle. Der Kommissar bedeutete ihm, dass dies am Telefon jeder behaupten könne. Er verlangte, dass er zumindest eine Kopie des Führerscheines zur Dienststelle faxt. Besser sei aber, er käme mit dem Führerschein vorbei. Dann könne er den Fahrzeugschlüssel wiederhaben.

      Sie meinen, das gibt es doch nicht? Jetzt fing mein Kampf gegen eine über Jahre eingefahrene Verwaltungspraxis erst an. Keiner der Beteiligten war bereit, in diesem Handeln ein Unrecht zu sehen. Der unmittelbare Vorgesetzte der Beamten konfrontierte mich gar mit seiner Tätigkeit als Verkehrsrechtslehrer an der Polizeischule in der Ausbildung für den mittleren Dienst. Auch dort habe er diese Verwaltungspraxis und seine Rechtsauffassung gelehrt.

      Es kam mir entgegen, dass der Vater des jungen Mannes, selbst Polizist, ausgesprochen empört über das Handeln und Verhalten der einschreitenden Beamten war. Er zog alle Beschwerderegister und reichte auch eine Petition im Landtag von Baden-Württemberg ein. Das Polizeipräsidium Mannheim musste Stellung dazu beziehen und ich konnte meine Rechtsauffassung zu Papier bringen. Der Ausschuss übernahm meine Begründungen nahezu wortgleich. Die Rechtsauffassung war identisch:

       Der Petition wurde abgeholfen

      Stuttgart, 05.05.97 Petitionsausschuss des Landtags von Baden-Württemberg

      Gegenstand der Petition

      Der Petent wendet sich gegen die Handlungsweise von zwei Polizeibeamten wegen Nichtmitführens des Führerscheins anlässlich einer Verkehrskontrolle.

      II. Die Prüfung der Petition ergab folgendes:

      1. Sachverhalt

      Der Sohn des Petenten kam am 05.02.97 mit dem Pkw des Petenten gegen 18.50 Uhr in eine allgemeine Verkehrskontrolle in Mannheim. Ihm wurden dabei von den Polizeibeamten des Verkehrsüberwachungsdienstes mittels beleuchteter Anhaltekelle Haltezeichen gegeben. Bei der Überprüfung konnte der Fahrer weder einen Führerschein noch einen Personalausweis vorzeigen. Dem Polizeibeamten erklärte er, dass er jedoch im Besitz einer gültigen Fahrerlaubnis sei.

      Als Nachweis der Identität wurde von dem Polizeibeamten ein Werksausweis mit Lichtbild anerkannt. Über Funk wurde dann festgesteilt, dass der Petent Halter des Fahrzeugs war. Die Führerscheinabfrage verlief negativ.

      Der Betroffene wurde daraufhin von dem Polizeibeamten gefragt, ob bei ihm jemand zu Hause sei, der seinen Führerschein entweder direkt zur Kontrollstelle bringen oder bei einer Polizeidienststelle in der Nähe des Wohnortes vorlegen könnte. Dies wurde vom Fahrer verneint. Außerdem lehnte er es ab, zwecks weiterer Ermittlung des Sachverhalts zur Polizeidienststelle gebracht zu werden. Da auch der Beifahrer keinen Führerschein vorweisen konnte, wurde wegen des Verdachts des Fahrens ohne Fahrerlaubnis der Fahrzeugschlüssel beschlagnahmt. Der Fahrer wurde auf sein Widerspruchsrecht gegen die Beschlagnahme hingewiesen. Nach § 33 Abs. 2 Satz 2 PoIG ist eine Beschlagnahmebescheinigung nur auf Verlangen zu erteilen.

      Auf Nachfrage wurde den beiden Fahrzeuginsassen der Weg zur nächsten Telefonzelle sowie zur nahegelegenen Haltestelle der Deutschen Bundesbahn AG erklärt. Der Fahrzeuglenker rief daraufhin den Petenten an. Der Petent setzte sich telefonisch mit dem Dienstgruppenführer und Vorgesetzten der Polizeibeamten in Verbindung. Um die Aufhebung der Schlüsselbeschlagnahme und die Weiterfahrt seines Sohnes zu erreichen, wollte er ihm die Führerscheindaten telefonisch mitteilen. Dies wurde von dem Beamten mit der Begründung abgelehnt, dass diese Daten auch in Form einer Fotokopie oder Abschrift vorliegen könnten und eine Überprüfung deshalb nicht möglich sei. Er bot allerdings an, dass der Führerschein auf der nächstgelegenen Polizeidienststelle vorgelegt werden kann und die Kollegen die Daten dann mittels Telefon bzw. per Telefax übermitteln könnten.

      Die Angabe des Petenten, dass er selbst Polizist sei, war für den Polizeibeamten kein Grund, den Sachverhalt anders zu beurteilen. Er erklärte dem Petenten, dass der kontrollierende Beamte wohl den Verdacht habe, dass sein Sohn nicht im Besitz einer gültigen Fahrerlaubnis sei. Aus diesem