Flucht. Benjamin Withmer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Benjamin Withmer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783945133941
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Truck steigt, um in die Stadt zu fahren, ist es diese eine Sache, der sie sich absolut sicher ist.

       11

       – Der Fährtenleser –

      Jim Cavey wusste bereits, dass die Knackis nicht nach Denver oder Mexiko unterwegs waren. Zumindest die Klügeren, die, für die Direktor Jugg seine Hilfe brauchen würde, um sie zu erwischen. Er weiß es, weil er schon so oft von seiner eigenen Flucht geträumt hat, so viele Male, dass er aufgehört hat, sie zu zählen. Als Pearl ihm erzählte, dass die Ausbrecher nach Fort Collins unterwegs seien, hatte ihn das nicht überrascht. Er rechnete damit, dass die Sache damit erledigt sei. Direktor Jugg konnte in Fort Collins anrufen, die Cops dort vor Ort konnten sich um die Sache kümmern.

      Sie sitzen im Wagen, sind auf dem Weg zurück ins Gefängnis. Die Heizung läuft auf Hochtouren, hilft aber wenig gegen die Kälte. Aus den Luftschlitzen quillt der süßliche Geruch des Frostschutzmittels. Bellingham kocht, das kann man sehen. Er mag es nicht, dass Pearl Greene ihn den Schoßhund von Jugg genannt hat. Aber das ist er. Es ist sein Job, so wie der von Jim auch. Niemand wird gerne daran erinnert, dass er jemand anderem gehört.

      »Wie sollen die überhaupt runter nach Fort Collins kommen?«, fragt Bellingham.

      Bei Jim verursacht diese Frage das Gefühl, als schlage ihn jemand mit einer Schneeschaufel in den Magen. Er antwortet nicht.

      »Ich hab dich was gefragt«, sagt Bellingham.

      »Die einzige Chance, die sie hätten, wäre der Highway 52«, sagt Jim. Er hat es schon durchdacht. »Es gibt keinerlei Alternativrouten, die man bei diesem Wetter in Betracht ziehen könnte.«

      »Highway 52«, sagt Bellingham. »Raff dich auf, Cavey.«

      »Ich bin mir nicht sicher, ob wir bei diesen Schneemengen wirklich nach Fort Collins runterfahren wollen«, sagt Jim. »Es schneit jetzt noch mal heftiger als vorhin.«

      »Dein Daddy wäre als Erster hinter ihnen her.« Bellingham reißt das Lenkrad herum, wendet den Wagen. »Er hätte keine Ausreden gesucht.« Bellingham drückt auf die Tube, dass der Motor heult.

      Der Wagen schleudert, dann haben die Räder Griff und sie schießen vorwärts. Ins Dunkel. Der Schnee ist so dick, als ob sie in den Weltraum wollen, zu den Sternen.

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      Was Bellingham gesagt hat, stimmt nur zum Teil. Der Alte wäre einem Ausbrecher sicher durch jede Art von Wetter hinterher, aber wenn er mit einem Gefangenentransporter unterwegs sein musste, dann hüllte er sich in tödliches Schweigen, die Hände an die Schenkel gepresst.

      Der Alte war schon alt, als er Vater wurde. Jim hat nie herausgefunden, wie alt genau, vermutlich Mitte Fünfzig. Als sein Vater Dreiundsechzig starb, hieß es in der Zeitung, er sei zwischen zweiundachtzig und vierundachtzig Jahre alt geworden, doch niemand wusste es genau. Der Alte redete in Gleichnissen und hatte wenig für Zahlen übrig. Oder für Autos.

      In seinen besten Jahren spielten Autos noch keine Rolle. Und da Jims Mutter so jung schon gestorben war, gab es niemanden, der seine Verachtung dafür hätte zügeln können. Ganz zu schweigen von Klimaanlagen oder Badezimmern mit Toiletten, deren Erfindung er für pervers – ja geradezu geistesgestört hielt. Sich vorzustellen, wie jemand im Haus seine Geschäfte erledigt, macht mich krank, sagte er oft.

      Wenn der Alte gesehen hätte, was die Ausbrecher Pearl Greene angetan hatten, hätte er keine Gnade gekannt. Er hätte die Flüchtigen so lange verfolgt, bis sie entweder tot oder wieder hinter Gittern gewesen wären.

      Jim erinnert sich an einen anderen Gefängnisausbruch im Winter. Nur sein Vater und er nahmen mit den Pferden die Verfolgung auf. Sie waren den drei flüchtigen Häftlingen bis zu einer kleinen Hütte gefolgt – etwa zwölf Meilen östlich der Stadt. Dort lebte eine mexikanische Familie. Es waren ein Vater und eine Mutter und ein Mädchen in Jims Alter, elf vielleicht. Das Mädchen wirkte krank. Völlig verängstigt lag es in eine Decke eingepackt auf dem Schoß der Mutter und zitterte, als hätte es Fieber. Es versteckte sein Gesicht vor Jim und dem alten Mann, bebte und schluchzte. Sein Anblick erschütterte Jim, am liebsten hätte auch er geweint.

      Am folgenden Tag holten sie die Ausbrecher ein. Sie waren dabei, unter einem Felsüberhang ein Feuer zu machen. Der Alte stellte sie mit seiner Winchester.

      »Ich möchte, dass du zu diesem Felsblock hochgehst«, sagte der Alte zu Jim. »Geh hoch und mach die Augen zu, steck dir die Finger in die Ohren und sing Brown Eyed Lee. So laut du kannst. Ich will dich hören.«

      Jim tat, was ihm gesagt wurde, und sang so laut er konnte, wieder und wieder. Er hatte das Lied fünfmal gesungen, als der Alte ihm auf die Schulter tippte. Seine braunen Augen glühten. In seinem Bart war Blut, vermischt mit Tabaksaft. Sie gingen in die Stadt zurück und sagten dem Direktor, wo er seine Häftlinge finden konnte.

      »Du hast sie da draußen gelassen?«, hatte der Direktor gesagt. »Was ist, wenn sie abhauen?«

      »Werden sie nicht«, sagte der Alte.

      Und das taten sie auch nicht. Zwei von ihnen sind nie wieder irgendwohin gelaufen.

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      »Immer noch sauer?«, fragt Bellingham.

      »Ich denke nach«, sagt Jim.

      »Darüber, dass ich wieder umdrehen soll?«

      »Ganz im Gegenteil.«

      »Gut.« Bellingham rückt sich die Mütze gerade. »Es könnte Leute geben, die deine natürliche Vorsicht für etwas anderes halten.«

      »Ich habe Pearl dazu gebracht, uns zu verraten, wo sie hin sind.«

      Der Wagen schleudert wieder, und Bellingham kämpft mit der Lenkung. Jim umschlingt seine Beine. Er erinnert sich an eine Äußerung des Alten über Bellingham. Dieser sei wie ein umgestülpter Mann, alle groben Seiten innen und die empfindlichen außen. Das hatte der Alte gesagt, nachdem Bellingham aus dem Krieg zurückgekommen war, und er hatte es als Kompliment gemeint.

      »Ich kann dich nicht verstehen, Jim«, sagt Bellingham. »Ich kann dich ums Verrecken nicht verstehen.«

      »Ich denke, da gibt es nichts zu verstehen«, sagt Jim.

      Bellingham lenkt um eine Kurve. »Ich habe von der Sache mit Chris Hansen gehört.«

      Jim sagt nichts.

      »Sechs Wochen Krankenhaus. Er hat Jugg gesagt, er sei die Stufen im Block 6 hinuntergefallen und Jugg hat ihm geglaubt. Was war das für ein Gefühl? Dass niemand auf die Idee kam, dich zu verdächtigen?«

      Wie Kometen flitzen die Schneeflocken am Beifahrerfenster lang. Jim schließt die Augen, lässt seinen Magen sich beruhigen.

      »Ich wette, du hast gedacht, dass es was bedeutet, dass die anderen Wachen dich alleine gelassen haben«, sagt Bellingham.

      »Es ist mir egal, was die andern von mir denken.«

      »Nicht alle, Jim.« Bellinghams Stimme hat etwas von ihrer Schrillheit verloren. »Lass uns diese Jungs schnappen, dann gibt dir Direktor Jugg den Job, den du verdienst. Wenn du willst, macht er dich zum Schichtführer.«

      »Das wäre nichts für mich.« Jim wird es ein wenig schwindlig dabei, den Schneeflocken zuzuschauen. Das ist es, was er an Autos hasst. Alles bewegt sich zu schnell, und man kann nirgendwohin fliehen, wenn Leute anfangen zu quasseln.

      Plötzlich wird Bellinghams Gesicht breit wie ein aufgestoßenes Fenster. Er tritt auf die Bremse, schlittert mit dem Wagen an den Straßenrand.

      »Was ist da?«, fragt Jim. »Was hast du gesehen?«

      Bellingham ist schon ausgestiegen, rennt die Straße zurück, die sie gekommen sind. Seine Taschenlampe sticht ins Dunkel.

      Jim