Flucht. Benjamin Withmer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Benjamin Withmer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783945133941
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sieht ihren Mann an. »Was soll das heißen?«

      »Ich weiß es nicht«, sagt Murray. »Frag den Mann da.«

      »Du fragst mich gar nichts«, sagt Howard. »Wenn, sag ich dir was. Und jetzt gerade sag ich dir, dass ihr genau Zeit bis Drei habt, um mir zu sagen, wo die Knarren sind, bis ich Löcher in euch schieße. Ladies first.«

      Murray steht stocksteif wie ein Blitzableiter.

      »Du sagst kein Wort, Murray«, sagt Alice.

      »Sie sind oben. Unterm Bett«, sagt er.

      »Verdammt, Murray. Verdammt.«

      Howard reibt einen Punkt auf seiner Stirn. »Warrington, du gehst hoch und holst die Knarren. Bad News, du suchst uns Klamotten. Mopar, du schaust nach dem Auto. Alice, du machst uns Kaffee. Wenn ich dich noch länger sehen muss, kann es passieren, dass ich dich totschlage.«

       9

       – Die Zeitungsleute –

      Es ist die Art von Sturm, die dich jede kleine traurige Lüge bereuen lässt, die du je erzählt hast. Sie haben noch nicht die halbe Strecke zum Old Lonesome geschafft. Der Schnee bildet einen scheinbar undurchdringbaren Vorhang. Ihr Wagen schlittert im Lichtkegel des Frontscheinwerfers durch das Weiß. Garrett kämpft mit dem Lenkrad und nagt an seiner Unterlippe. Stanley trinkt eine Flasche Coors und sinniert über Garretts Leben, damit er nicht an sein eigenes denken muss. Das ist Teil der Abmachung gewesen. Garrett muss fahren, damit Stanley Bier trinken kann.

      Garrett hat zu Hause kein Telefon, deshalb sind sie noch bei ihm vorbeigefahren, um seiner Frau von der Zeitungsgeschichte zu erzählen. Garretts Frau hatte auf dem Foto, das Stanley gesehen hatte, bereits nicht besonders attraktiv ausgesehen. In echt war sie noch unattraktiver. Dicke Hüften, klumpige Lippen und Akne-Blumen, einen Popel essenden Hosenmatz auf dem Arm und ein schreiendes Baby in der Korbwiege. Es war peinlich zu sehen, wie pleite sie waren. In der Spüle türmte sich das dreckige Geschirr. Und offenbar hatten sie die Heizkosten nicht mehr bezahlen können, Kleinkind und Mutter waren in abgenutzte Decken gehüllt. Nirgends ein Fernseher, nicht einmal ein Radio. Bücher auf Brettern, die auf Betonsteinen ruhen. Sogar ihr Weihnachtsbaum sah aus, wie etwas, das sie gebraucht gefunden hatten, geschmückt mit Popcorn und Cranberrys und auf Karton gemaltem Schmuck. Für Stanley war es genug, um an einem Auspuffrohr saugen zu wollen.

      Die Sonne ist weg, und vom Dämmerlicht ist nichts mehr zu sehen. Das heißt aber nicht, dass die Nacht bereits ihre volle Schwärze erreicht hat. Stanley ist alt genug, um das kapiert zu haben. Es wird immer noch dunkler. Jeder, der das noch nicht verstanden hat, lebt hinter dem Mond.

      Oder ist noch ein Kind.

      So wie der hier.

      Stanley schaut zu Garrett. Ich hätte ihm sagen sollen, dass er sich etwas anderes anzieht, denkt er. Er trägt immer noch den orangefarbenen Anzug und die Stiefeletten aus der Bar. Zumindest werden die Gefängniswärter ihn so nicht versehentlich erschießen. Und zur Hölle, vielleicht ersticken die Ausbrecher ja vor Lachen.

      Garrett kurbelt am Lenkrad, der alte Wagen scheuert um eine Kurve. Sogar auf dem Beifahrersitz kann Stanley spüren, wie die Räder über das Eis rutschen. Sie fahren keine 40, aber dennoch ist es gefährlicher als die Male, die er nachts mit 160 die Colfax Avenue hinuntergerauscht ist.

      »Können wir das Radio anmachen?«, sagt Garrett. »Vielleicht sind wir schon nah genug, um eine der Durchsagen hereinzubekommen.«

      Stanley dreht am Programmknopf und bekommt eine knisternde Stimme herein: »… erinnern wir Sie daran, die Türen verschlossen zu halten, und wenn sie eine Feuerwaffe im Haus haben … alle … Männer sind immer noch …« Dann ist der Sender wieder weg.

      »Das war Direktor Jugg«, sagt Garrett. Er schlägt aufs Lenkrad. Die Nachricht gefällt ihm so, dass er es noch mal tut. »Sie haben sie noch nicht.«

      »Freu dich nicht zu früh, Junge«, sagt Stanley. »Die meisten Geschichten sind kalt, noch bevor du da bist. Sie haben noch Zeit genug, um sie alle zu erschießen. Und das werden sie auch tun.«

      »Eine Schießerei ist doch auch eine Riesengeschichte.«

      Stanley schließt die Augen. Dieser ganze Enthusiasmus ermüdet ihn.

      »Okay«, sagt Garrett. »Ich beiße an. Warum sollte man sie erschießen?«

      »Aus dem gleichen Grund, warum du einen Hund erschießt, wenn er eins deiner Hühner gerissen hat. Er tut es sonst wieder.«

      Etwas wie Bedauern flackert über Garretts Gesicht.

      Bedauern ist noch ermüdender als Enthusiasmus.

      »Ich hab gehört, dass du mehr Schlitzaugen gekillt hast, als durch Napalm umgekommen sind«, sagt Stanley. »Hab gehört, dass du Khe Sanh ganz allein gehalten hast. Die ganze verdammte Stellung.«

      Garrett umklammert das Lenkrad so fest, dass seine Knöchel weiß werden, und geht in eine Kurve. »Ich hab nur die gekillt, die mir vor die Flinte gesprungen sind.«

      »Da hab ich was anderes gehört«, sagt Stanley. »Was ganz anderes. Ich habe gehört, du bist die ganzen siebenundsiebzig Tage da gewesen. Und auch genau dann, als Operation Pegasus gestartet wurde.«

      »Ja. Und? So war es nicht«, sagt Garrett. »So war es überhaupt nicht.«

      Die einzige Sache, die Stanley noch ermüdender findet als Enthusiasmus oder Bedauern ist Bescheidenheit. »Es ist ein Wunder, dass dich die Musterungsbehörde nicht auf Werbetour geschickt hat«, sagt er.

      »Das stand nie zur Debatte«, sagt Garrett. »Wo hast du gedient?«

      »Korea.«

      »Wo in Korea?«

      »Überall, wo ich mich verstecken konnte. Ich hab Artikel geschrieben.«

      »Das ist doch auch ein wichtiger Job gewesen.«

      »Das Gleiche haben sie mir auch gesagt«, sagt Stanley. »Die Moral der Männer ankurbeln.«

      »Es war eine bedeutungsvolle Aufgabe.«

      »War es das wirklich? Stars and Stripes hat bei euch Jungs die Moral angekurbelt?«

      Garrett antwortet nicht. Er konzentriert sich so sehr auf die Straße, dass Stanley nicht einmal sicher ist, ob er ihn gehört hat. Es ist nicht nur sein oranger Anzug, der ihn so lächerlich macht. Es sind auch Haarschnitt und Bart. Und wie seine Wangen glühen, wenn er aufgeregt ist, was die ganze Zeit der Fall zu sein scheint.

      Stanley zündet sich mit dem Zigarettenanzünder eine Lucky Strike an. »Hast du je Das Herz der Finsternis gelesen?«

      »Hab ich«, sagt Garrett. »Sie hat mir immer Bücher geschickt. Wollte verhindern, dass ich verblöde und dafür sorgen, dass ich mich noch mit ihr unterhalten kann, wenn ich wieder nach Hause komme.«

      »Erinnerst du dich an die letzten Worte von Kurtz?«

      Garrett kneift die Augen zusammen, um sie kurz darauf weit aufzureißen. Er schnippt mit den Fingern. »Das Grauen. Das Grauen.«

      »Ganz genau. Aber erinnerst du dich, was Marlow der Freundin von Kurtz bei seiner Rückkehr in die Heimat erzählt hat? Als sie ihn fragt, was seine letzten Worte gewesen sind?«

      Garretts Augen sind nun fast vollständig geschlossen. »Ihr Name?«

      Stanley lässt Rauch aus seiner Nase strömen. »Das war die Aufgabe von Stars and Stripes«, sagt er. »Für die Freundinnen daheim gab es immer eine extra Zeile. So hat es der Zensor für die Heimatpost vorgeschrieben.«

      »Die wirklichen Geschichten konnten sie nicht drucken«, sagt Garrett.

      »Da hast du es. Denk daran, wenn wir die Stadt erreichen. Hör ganz genau hin, wenn dir der Direktor erzählt, was passiert ist.« Stanley macht einen neuen Zug