Es war erst ein paar Wochen her, auf einer Party. Das war das endgültige Aus gewesen. Eine dieser Ferienpartys, die Stanley mehr als alles andere hasst. Wenn du einen Pfirsichgarten in Evergreen hast, wirst du auf viele Partys eingeladen. Immer läuft es so, dass die Kinder oben im ersten Stock eingesperrt werden, damit sie nicht sehen können, was die Erwachsenen unten so treiben. So eine Art von Party war es auch diesmal. Die Hälfte von ihnen hing um den Küchentisch, wo die Joints geraucht und die Kokslinien gezogen wurden. Die andere Hälfte war mit fremden Ehepartnern am Fummeln.
Stanley war einer von denen am Küchentisch. Er zog Kokainlinien auf einer chinesischen Porzellanplatte und erzählte dabei Geschichten. Als Erstes die Geschichte, wie er seine Frau Marjorie kennengelernt hatte. Wie er gerade aus Korea zurück war und auf dem Weg nach Montreal durch Denver trampte und in einer Oben-Ohne-Bar auf der Colfax Avenue Halt machte. Wo Marjorie tanzte. Wie sie nach ihrer Schicht etwas zusammen getrunken und über Bücher geredet hatten, darüber wie sehr sie das Fernsehen hassten. Und wie sehr sie Pfirsiche liebten.
Es war eine gute Geschichte, aber wie es einem mit Koks und Gras passiert, verlor Stanley den Faden und vergaß die Stellen, mit denen er die Leute sonst zum Lachen brachte. Dann kam er ganz aus dem Tritt und landete bei einer Kurzgeschichte von Melville, in der eine Frau auf einer Insel strandet und komplett von Schildkrötenfleisch lebt, bis ein paar Walfänger sie finden. Und wie niemand weiß, was weiter geschieht, weil Melville sagt, es gibt da ein paar Dinge, über die man nicht schreibt.
Das war jedoch nicht ganz die Geschichte, die Stanley eigentlich zu erzählen versuchte. Was er erzählen wollte, hatte etwas mit dem Schweigen zu tun und der Unmöglichkeit, wirklich über Gräueltaten zu reden. Wie man das lernen muss, wenn man in der Welt der Vietnams und Koreas überleben will. Menschen in religiösen Texten sind dauernd Zeugen schrecklicher Dinge oder bekommen sie selbst angetan. Vielleicht ist Spiritualität nichts anderes als etwas, das man sieht und erlebt und mit Sprache nicht vermitteln kann. Etwas, für das es keine Worte gibt. Was wäre in diesem Fall besser, als das Reich der Spiritualität durch Gräuel zu betreten? Es könnte ja Sinn machen, jemanden ans Kreuz zu nageln oder ein Dorf wegzubomben falls man so zu Gott finden könnte.
Diese Art Gedanken bekommt man auf Koks.
»In der Natur und in der Rechtsprechung mögen gewisse Wahrheiten verleumderisch klingen«, sagte Stanley. Als er aufsah, schenkte ihm niemand Beachtung. Und irgendwie war die Porzellanplatte mit all dem Koks weg. Alle andern auch. Er saß allein am Tisch.
Es war, wie aus einem Traum zu erwachen. Ihm gegenüber stand Marjorie. Eine Zigarette zwischen ihren Fingern, schmiegte sie sich an einen Kerl mit schwarzem Bart und Pferdeschwanz, der eine wollene Hose und Holzfällerstiefel trug. Sie beide sahen ihn an und grinsten. Kein freundliches Grinsen. Jene Art von Grinsen, die man aufsetzt, wenn man jemanden sieht, der am Rinnstein die eigene Scheiße aus einer Schuhschachtel isst.
Stanley erhob sich und ging zu ihnen hinüber. Die Bodenbretter knarrten unter seinen Schuhen. Von all dem schwammigen Licht, das die Lampenschirme warfen, torkelte er, passierte einen Mann und eine Frau in einem ramponierten Ledersessel. Der Mann hatte seine Hand unter ihrem Pullover, sie grunzte wie ein Ferkel auf der Suche nach der Zitze.
»Wir haben gerade über dich geredet«, sagte Marjorie. Ihr breites Gesicht war nicht schön. Nicht heute Abend. Heute Abend war es wild, angeschwollen vom Wein, die Person dahinter sichtlich angespannt, als sei sie drauf und dran, Stanley an die Kehle zu springen. »Ich hab Dusty hier gesagt, dass es nicht wirklich drauf ankommt, ob dir jemand zuhört, wenn du einmal loslegst. Wir haben uns gefragt, wie lange es wohl dauert, bis du es merkst.« Sie legte Dusty ihre Hand auf den Arm. »Wenn er auf Koks ist, zitiert er gerne Melville, bei Whiskey ist es Flaubert.«
Dusty sah plötzlich aus, als wäre es ihm unbehaglich.
»Man muss sich aber davor hüten, alle Zitate für bare Münze zu halten«, fuhr Marjorie an Dusty gerichtet fort. »Du darfst nicht davon ausgehen, dass alles, was er als Zitat ausgibt, tatsächlich eines ist. So wie du auch nicht darauf vertrauen kannst, dass alles, was er als eigene Gedanken ausgibt, nicht doch ein Zitat ist.«
Dusty wirkte, als würde er am liebsten hinter seinem Bart verschwinden.
»Mach dir nichts draus«, sagte Stanley zu ihm. »Sie blamiert einen jedes Mal.«
Marjorie schlug ihm ins Gesicht. Mit der offenen Hand schlug sie so fest zu, dass ihm der Ehering die Wange aufriss.
Stanley schlug zurück. Mit geschlossener Hand.
Er hatte vergeblich versucht, herauszufinden, ab wann es bei ihnen schiefgelaufen war. Sie waren so sehr von ihren Kämpfen gezeichnet und so dünnhäutig geworden durch all die Kritik, dass sie sich selbst nicht mehr wiedererkannten. Sie verachtete alles an ihm, und es war nicht mehr viel von ihm übrig, was er nicht selbst auch verachtete. Seine Welt war auf die Größe eines Vogelkäfigs geschrumpft.
Er schlug sie noch einmal. Hart genug, dass sie gegen den Kamin taumelte.
Sie hob den Schürhaken hoch und griff ihn an.
Dann war er von Leuten umringt. Sie rangen ihn nieder, zogen ihn zurück, drückten ihn gegen den Küchentisch, sodass dieser umkippte.
Und die ganze Zeit war er immer noch am Ausholen. Und Fauchen.
10
– Die Geächtete –
Vermutlich ist das, was Dayton vorhat, keine gute Idee. Ganz sicher nicht. Jedes Mal, wenn sie Verwandte besucht, läuft es schief. Sie hat Mopars Eltern über Jahre nicht gesehen, zuletzt, lange bevor Mopar ins Gefängnis gekommen ist.
Es gibt keinen Grund, Dayton für das verantwortlich zu machen, was aus Mopar geworden ist. Seitdem er laufen konnte, war Mopar fest entschlossen, sein Elternhaus bei der erstbesten Gelegenheit zu verlassen. Jeder wusste, wie Ed war, wenn er trank. Und jeder wusste, dass es kaum Tage gab, an denen er es nicht war. Das war einer der Gründe, warum er seinen Laden nicht am Laufen halten konnte. Ed war billiger als alle anderen Mechaniker in der Stadt, aber man riskierte etwas, wenn man zu ihm ging. Da gab es Leute, die ihr Fahrzeug zum Ölwechsel brachten und dann ohne Ölwanne davonzogen. Und so brutal Ed auch mit den Autos umging, seinem Sohn gegenüber war er noch brutaler. In der ganzen Stadt gab es niemand, der nicht gewusst hätte, wie es in diesem Haus zuging. Dayton wusste es mit Sicherheit. Als Mopar sechzehn Jahre alt war, ließ er die Schule sausen und nahm einen Job bei Schmidts Autofriedhof an. Er schmiss den Laden ganz allein, bekam aber so gut wie keinen Lohn dafür – außer einem zusammengebrochenen Wohnwagen, in dem er hausen konnte.
Nein, eigentlich hat niemand einen Grund, sie dafür verantwortlich zu machen, dass Mopar sein Elternhaus verlassen hat. Aber sie tun es trotzdem. Die ganze Familie tut es. Dabei war sie nicht einmal in der Stadt, als er ausgezogen ist. Sie war in Kalifornien. Aber trotzdem ist es Dayton gewesen, die zuerst die Schule abgebrochen hat und ausgezogen ist, die gezeigt hat, dass man das machen kann. Und obwohl Mopar nie weiter als bis zu Schmidts Autofriedhof gekommen ist, war es für sie das Gleiche. Dayton und Mopar gehören der gleichen Generation an, teilen die gleiche Enttäuschung. Es lässt sich meist nicht nachvollziehen, warum jemand einen Groll auf einen anderen hat.
Heute wünscht Dayton sich manchmal, dass sie geblieben wäre und wenigstens die Schule fertiggemacht hätte. Aber damals passierten draußen in der Welt so viele Dinge, die bei ihnen in der Stadt nicht passierten. Man las in Zeitschriften darüber, hörte davon im Radio oder verfolgte sie im Fernsehen. Man wusste, da draußen ist was los, aber auch, dass man nicht die ganze Wahrheit über all das erfuhr. Nie.
Die Stadt war schuld. Perkins Drug Store und Limonaden, Mädchen, die herauskamen und in Richtung der Jungs kicherten, die rauchend auf der Bordsteinkante standen. Vollgepackte Autos und überfrisierte, halbgare Angeberschlitten am Samstagabend. Gewaltbereite Halbstarke, die vor dem