Seitdem Milton Erickson den Begriff »Trance« erweiterte und ihn nicht nur dafür nutzte, was in der Praxis des Therapeuten geschah, sondern auch dafür, was im täglichen Leben passierte, kann man Trancephänomene als einen Versuch verstehen, äußere Manifestationen des Unbewussten zu beschreiben oder zu systematisieren. Gerade diese Beschreibung ist überaus interessant, wenn es um die Diagnose im Bereich der dominierenden Trancephänomene geht. Obwohl jede Person individuell und einzigartig ist, können dennoch gewisse Verhaltensweisen, wenn sie sich im täglichen Leben häufiger wiederholen als andere, in bestimmte Konstellationen eingeordnet werden. Trancephänomene können sowohl bei einzelnen Personen als auch in Familien festgestellt werden.
Hierbei geht es gar nicht um bestimmte Ereignisse, sondern eher um eine Tendenz, um eine gewisse Atmosphäre oder emotionale Färbung, die einer Person oder einer Familie eigen ist. Gerade bei Familien ist dies besonders deutlich wahrnehmbar: Manche Familien sind sehr offen, andere eher verschlossen oder gar feindselig, manche Familien wirken düster, andere heiter, manche redselig, wieder andere eher schweigsam.
»Jede Familie besitzt einen kollektiven Bereich des Unbewussten, in diesem Gebiet entwickeln sich Symptome […]. Genau das ist die Familientrance« (Rittermann 1987).
Es existieren unbeschreiblich viele Dimensionen, Klänge und Färbungen. Stimmt man mit Erickson überein, dass Trance und die damit verbundenen Phänomene im normalen täglichen Verhalten des Klienten gegenwärtig sind, so kann dieser Teil der Diagnose auch auf Tranceerfahrungen basieren, die außerhalb des therapeutischen Kontextes auftreten. Der Charakter dieser Phänomene, ihre Häufigkeit und Stärke, unterscheidet sich von Person zu Person und manifestiert sich bei jedem Individuum auf ganz charakteristische und unterschiedliche Weise. Unabhängig von der persönlichen Neigung können sich die Phänomene auch situationsbedingt unterscheiden. Erkenntnisse zu den dominierenden Tranceerfahrungen im täglichen Leben erlangt der Therapeut über Erzählungen des Klienten und seiner Familienangehörigen. Darüber hinaus beobachtet der Therapeut das Verhalten des Klienten während der Therapie. Die Schlussfolgerungen, die er hieraus zieht, sind eine mögliche Grundlage, um eine Diagnose im Bereich der Trancephänomene zu stellen.
Die Diagnose im Bereich der Trancephänomene ist, ähnlich wie die im Bereich der Diagnosekategorien, von dimensionaler und nicht von typologischer Art. Dieser Charakter der Diagnoseelemente führt zu der Folgerung, dass die beschriebenen Phänomene nicht scharf voneinander zu unterscheiden sind, vielmehr sind die Grenzen fließend. Für Therapeuten, die eine genaue Einordnung und klar definierte Grenzen benötigen, kann dies gewisse Schwierigkeiten mit sich bringen. Die Zweckmäßigkeit scheint aber dennoch für diese Konstruktion der Diagnosebereiche zu sprechen: Sie liefert dem Therapeuten einen direkten Hinweis für die strategische Planung der Therapie.
Um die Trancephänomene zu beschreiben, kann ein theoretisches Konstrukt verwendet werden, das diese Phänomene in räumlichen Dimensionen darstellt. Brent B. Geary (2001) schlug vor, zu den häufig bei Klienten beschriebenen Trancephänomenen wie Altersregression, positive und negative Halluzination, Einengung und Erweiterung des zeitlichen Raums, prä- und posthypnotische Suggestion, Katalepsie, Anästhesie, Assoziation, Dissoziation, Amnesie und Hypermnesie noch drei weitere Trancephänomene hinzuzufügen: Zeitprogression, übermäßige Flexibilität sowie Hypersensitivität. Auf diese Weise erhält man acht räumliche Dimensionen der Trancephänomene:
•Dissoziation – Assoziation
•Katalepsie – übermäßige Flexibilität
•Positive Halluzination – negative Halluzination oder Halluzination – »Hyperwirklichkeit«
•Gefühllosigkeit (Anästhesie) – Analgesie – übermäßige Empfindsamkeit (Hypersensitivität)
•Amnesie – Hypermnesie
•Zeitregression – Zeitprogression
•Einengung der Zeitebene – Erweiterung der Zeitebene
•Prähypnotische Suggestion – posthypnotische Suggestion
Der Anwendungsbereich der Begriffe, die hier zur Beschreibung der Trancephänomene genutzt werden (wie Amnesie, Katalepsie, Dissoziation oder Halluzination), unterscheidet sich etwas von deren Bedeutungsbereich in der Psychiatrie und der klinischen Psychologie. Milton H. Erickson war sowohl praktizierender Psychiater als auch Psychologe. Mehr als zwanzig Jahre lang arbeitete er in verschiedenen psychiatrischen Kliniken in unterschiedlichen Bundesstaaten der USA – in Rhode Island, Massachusetts, Michigan und Arizona. Zwar griff er oft auf die medizinische Terminologie zurück, doch er verstand viele der Fachbegriffe in einem breiteren als nur dem rein psychopathologischen Kontext.
Die Diagnose der Trancephänomene erfolgt in Dimensionen. An einem Pol befindet sich ein gewisses Extrem, also die Maximierung einer bestimmten Eigenschaft, am anderen Pol dagegen herrscht das Gegenteil davon vor. Als Ergebnis der diagnostischen Schlussfolgerungen wird ein Ort zwischen diesen beiden Extremen bestimmt, an dem sich die Aktivität der Klienten befindet, die in diesem Bereich dominiert. Ziel einer solchen Diagnosestrategie ist es, die Richtung der therapeutischen Arbeit festzulegen, die Flexibilität des Klienten zu vergrößern sowie die dem Klienten zur Verfügung stehenden Wahlmöglichkeiten zu erweitern.
Stellt der Therapeut eine Diagnose im Bereich der Trancephänomene, so wählt er einige der dominierenden Phänomene beim Klienten aus. Es besteht keine Notwendigkeit, eine Diagnostik im Bereich aller Trancephänomene vorzunehmen, sondern nur in den Bereichen, in denen therapeutische Interventionen durchgeführt werden sollen. Gut ist es, wenn der Therapeut mehrere Trancephänomene diagnostiziert, in deren Bereich Veränderungen angestrebt werden. Damit erhält der Klient die Möglichkeit, (unbewusst) einen Bereich auszuwählen, in dem es ihm leichter fällt, mit dem Therapeuten zusammenzuarbeiten.
Bei der Diagnose sollte sich der Therapeut auf genau das Trancephänomen konzentrieren, das Teil des Symptoms und dessen innerer Struktur ist. Eine solche diagnostische Reflexion erleichtert spätere Interventionen, sowohl bei der Auswahl der Hypnoseinduktion als auch bei der Auswahl der therapeutischen Interventionen (Edgette a. Edgette 1995). Michael D. Yapko (1992) merkt an, dass der Therapeut dieselben Trancephänomene, die für die Symptome beim Klienten verantwortlich sind, auch für therapeutische Lösungen verwenden kann. Wissen und Fähigkeiten des Klienten sowie dessen langjährige Erfahrungen auf einem bestimmten Gebiet der Trance müssen also nicht zwangsläufig eine Einschränkung bedeuten, sie können auch als Ressourcen betrachtet werden, mit deren Hilfe eine Veränderung im Bereich der Symptome herbeigeführt werden kann. Stephen Lankton (2001b) beschreibt seine therapeutische Arbeit mit Personen, die unter dem posttraumatischen Belastungssyndrom leiden, im Trancebereich Assoziation – Dissoziation. Genau dieses Trancephänomen war bei diesen Personen auch Gegenstand der symptomatischen Beschwerden. In der Geschichte eines 72-jährigen Mannes, der an Phantomschmerzen im Fuß litt, wird sehr gut deutlich, wie die Fähigkeiten des Klienten im Bereich der Halluzination bei der therapeutischen Arbeit genutzt werden können. Während einer komplexen Tranceprozedur gelang es Erickson, die halluzinierten Schmerzen im amputierten Fuß durch ein ebenfalls durch Halluzination erzeugtes angenehmes Gefühl zu ersetzen (Rossi, Erickson-Klein a. Rossi 2014a).
Das Wahrnehmen der acht Sphären der Trancephänomene ist für die Person, die die Diagnose stellt, von wesentlicher Bedeutung. Den Therapeuten, der die Einschätzung auf diesem Gebiet vornimmt, kann man mit einem sensiblen Messinstrument mit ganz präziser Einstellung vergleichen, die nur durch einen langjährigen Ausbildungsprozess erreicht werden