Es handelt sich nun darum, zu erforschen, ob das, was dieses grosse Andenken verdunkelt, ein blosser Ausbruch angeborner Grausamkeit und Brutalität war, oder eine Folge des oben geschilderten Aberglaubens, oder eine elende Nachgiebigkeit gegen Mitregenten, die tief unter ihm standen, oder ob nicht endlich für den Geschichtsforscher hier die Pflicht vorliegt, nach einem Auswege zu suchen, der neben dem geschriebenen Buchstaben vorbeiführt. Die Christen haben den Namen Diocletians mit Fluch völlig zugeschüttet; die Heiden von römisch-griechischer Bildung konnten ihm ebenfalls nicht hold sein, weil er den Orientalismus in das politische und gesellige Leben einführte; die einzigen Geschichtschreiber aber, die möglicherweise den wahren Zusammenhang der Dinge darstellten – Ammian und Zosimus – sind verstümmelt, und zwar vielleicht ebendeshalb. Unter solchen Umständen ist es ganz überflüssig, aus den vorhandenen Quellen das Wesentliche und Entscheidende direkt ermitteln zu wollen.
Der gewöhnlich zugrunde gelegte Bericht, nämlich die Schrift des Lactantius »Von den Todesarten der Verfolger«, beginnt gleich549 mit einer erweislichen Unwahrheit. Eine wichtige Eingeweideschau in Gegenwart des Kaisers wird dadurch gestört, dass die anwesenden christlichen Hofleute das Kreuz schlagen550 und damit die Dämonen vertreiben; vergebens wird das Opfer mehrmals wiederholt, bis der Vorsteher der Haruspices die Ursache ahnt und ausspricht. Darauf soll Diocletian in vollem Zorn von allen Hofleuten das Götzenopfer verlangt und dies Gebot sogar auf die Armee ausgedehnt haben, unter Androhung des Abschieds, wobei es einstweilen sein Bewenden hatte. Diese Geschichte beruht auf der durch Euseb hinlänglich widerlegten Meinung, als hätte der Kaiser die Christen an seinem Hofe nicht als solche gekannt und nicht dulden wollen. Das Wahrscheinliche ist, dass die christlichen Kammerherrn und Pagen entweder bei den Opfern überhaupt nicht anwesend zu sein brauchten, oder wenn sie zugegen waren, sich so aufführten, wie es der Dominus für passend fand551; eine Szene wie die geschilderte aber hätte entweder schon weit früher, etwa bei seinem Regierungsantritt, stattfinden müssen, oder sie war überhaupt undenkbar. Die heidnische Überzeugung des Kaisers, die sich achtzehn Jahre in die Existenz und Macht der Christen gefügt hatte, kann für sich allein überhaupt nicht das entscheidende Motiv zur Verfolgung gewesen sein, so ernst und eifrig sie auch war.
Die zweite Unwahrheit des genannten Berichtes liegt in der erschrockenen Nachgiebigkeit Diocletians gegen den Galerius, welcher (wahrscheinlich von der Donau her) in Nikodemien eingetroffen war, um den Oberkaiser für die Verfolgung zu gewinnen; seinerseits soll er wieder von seiner Mutter Romula aufgehetzt worden sein. Diese war nämlich eine eifrige Dienerin der grossen Magna Mater (welche hier als Berggöttin bezeichnet wird) und nahm es sehr übel, dass die Christen ihres Wohnortes nicht wie die Heiden an ihren täglichen Opferschmäusen teilnehmen wollten. Dieses ganze Gerede, welches die grosse Tatsache schliesslich auf die Laune eines fanatischen Weibes zurückführen würde, fällt dahin, sobald man weiss, dass Diocletian sich vor Galerius nicht fürchtete, und dass der Autor über den ganzen Charakter des Fürsten in den stärksten Irrtümern befangen ist552. Auch auf die vorgeblichen Abreden, welche im Winter 302 auf 303 zu Nikodemien gehalten worden sein sollen, ist gar nichts zu geben, da der Autor anderweitig (S. 60) sich allzusehr als Liebhaber dramatischer Fiktionen bloßstellt. Er sucht freilich den Diocletian als den Widerstrebenden und Besonnenem zu charakterisieren, um den grössern Hass auf das Scheusal Galerius zu häufen. »Als sie sich den ganzen Winter hindurch berieten und niemand zugelassen wurde553 und jedermann glaubte, sie verhandelten über Staatssachen, widersetzte sich der Alte lange der Wut des Kollegen, indem er ihm vorstellte, wie gefährlich es sei, die Welt zu beunruhigen und Blut in Menge zu vergiessen. Die Christen stürben gerne554. Es sei genug, wenn die Hofleute und Soldaten dieser Religion entsagen müssten. Allein Galerius habe auf seinem Sinne beharrt, und Diocletian darauf einen geheimen Rat von Juristen und Offizieren berufen, um über die Frage der Verfolgung zu entscheiden. Denn das sei so seine Art gewesen, bei verhassten Massregeln mehrere zu Rate zu ziehen, um das Böse auf diese schieben zu können, das Gute dagegen ohne Beirat zu tun, um das Lob allein zu haben.« Eine solche Handlungsweise ist bei allem, was wir sonst von Diocletian wissen, völlig undenkbar. Die Herrscheridee, welche ihn beseelte, lässt sich auf den populären Unterschied von beliebt und verhasst gar nicht ein und nimmt auch dasjenige auf eigene Verantwortung, was sie nur durch andere wohl oder übel ausführen lässt. Denn alles, was zugestandenermassen ohne den Herrn geschähe, würde seiner Macht zum Abbruch gereichen, die sein erster und letzter Gedanke sein muss. Doch man höre weiter. Auf den bejahenden Entscheid jenes geheimen Rates hin lässt Diocletian noch zu allem Überfluss beim milesischen Apoll anfragen und erhält natürlich dieselbe Antwort, gibt aber auch jetzt nur unter der Bedingung nach, dass kein Blut fliessen dürfe, während Galerius grosse Lust gehabt haben soll, die Christen lebendig zu verbrennen. Doch wir haben ja soeben aus des Oberkaisers Munde vernommen, dass er zahlreiche Martyrien der Christen voraussieht! Besser als irgend jemand konnte er wissen, dass die Christen entweder in Ruhe gelassen oder mit den äussersten Mitteln bekämpft werden müssten, und dass das Einbedingen eines unblutigen Verfahrens eine Torheit wäre.
Dieser Art ist die einzige zusammenhängende Darstellung der grossen Katastrophe. Und Lactantius war damals in Nikodemien