Ein Blick auf die geretteten Lehrbücher der spätern römischen Rhetorik539 genügt, um uns mit tiefer Beschämung zu erfüllen. Diese Schriften eines Rutilius Lupus, Aquila, Rufinianus, Fortunatianus, Rufinus u. a. sind zum Teil keine echt römischen Produktionen, sondern vielleicht nur kümmerliche Bearbeitung griechischer Vorbilder seit Gorgias und Aristoteles, allein sie beweisen doch, auf welchem Fusse man die Redekunst selbst in der spätesten Kaiserzeit zu halten suchte. Nicht nur jede Art von Satzfügung, von Redefiguren, von Konstruktionskünsten, die wir ohne die Alten gar nicht zu benennen wüssten und in unsern jetzigen Lehrbüchern kaum zum zehnten Teil gebrauchen, erhält in diesen Systemen Stelle und Namen, sondern es wird auch über die Gattungen des Redestils, über Bau und Ausführung der Reden umständlich gehandelt. Von der unendlichen Feinheit des Ohres in jenen Zeiten mag es zum Beispiel einen Begriff geben, dass die für uns unbemerkbaren metrischen Unterschiede der Worte (oder kurzen Wortfolgen) in umständlicher Theorie (bei Rufinus) auf die einzelnen Bestandteile der Sätze, Eingänge, Ausgänge usw. verteilt werden; es war eine wichtige Frage, in welchen Fällen ein Satz anapästisch, spondeisch usw. anfangen sollte. Die Kunst des Vortrages und des äussern Auftretens überhaupt (bei Fortunatianus) vollendet diese ganze Lehre und lässt abermals erkennen, dass all unser jetziges Reden blosser Naturalismus ist und nur durch zufällige Begabung, ja unbewusst die schöne Form erreicht. Jede Handbewegung, jedes Sinkenlassen und Überschlagen des Gewandes hatte sein Gesetz; wie der Bildhauer, so wusste auch der Redner recht gut, dass nie Arm und Fuss derselben Seite zugleich vorgestreckt werden dürfen, und dergleichen mehr. So allein war es möglich gewesen, die Redekunst zu einem Virtuosentum des ganzen geistigen und leiblichen Menschen zu steigern.
Die Schattenseite hievon war, wie bei jedem Virtuosentum, die allmähliche Gleichgültigkeit gegen den Inhalt und die in gleichem Masse steigende persönliche Eitelkeit. Die griechischen Sophisten der frühern Kaiserzeit, wie sie Philostratus schildert, produzieren sich mit ihren oben angeführten Themen (S. 310 f.) in einer oft eigentümlich prahlerischen Weise und lassen sich anstaunen wie gewisse Repräsentanten der heutigen Musik, deren Ansprüche den ihrigen auffallend ähnlich sehen. Wie inzwischen auch im Abendland die politische Beredsamkeit im Panegyricus aufging und die gerichtliche tiefer und tiefer sank, gehört nicht weiter hieher. Aus der diocletianischen und constantinischen Zeit besitzen wir an den oft angeführten Lobreden auf die Kaiser und Caesaren vielleicht das Beste; wogegen die schlechte Diktion der gleichzeitigen Edikte in Abrechnung kömmt. Bei den Christen war der Stil bisher eine Nebensache gewesen540; erst einige Jahrzehnte später beginnt die Reihe ihrer berühmten Kanzelredner, bei welchen der neue Inhalt endlich sich mit der überlieferten, aber umgestalteten Form ausgleicht. Ein merkwürdiger Zwiespalt hatte überwunden werden müssen, die Verehrung des klassischen Stiles und der Abscheu gegen die heidnischen Beziehungen, die Befreundung mit der biblischen Sprache und das Bewusstsein ihrer Unreinheit. Für Sanct Hieronymus bedurfte es eines schrecklichen Traumgesichts, in welchem ihn der Weltrichter verdammen wollte als einen Ciceronianus, non Christianus541.
Inzwischen blieb für die Heiden und auch für zahllose Christen die Rhetorik das ganze vierte Jahrhundert hindurch ein Lebensinteresse. Einzelne Lande, wie Gallien und Afrika, waren sich fortwährend besonderer Eigentümlichkeiten des Stiles nicht ohne Stolz bewusst542, und die Rhetoren gehörten hier zu den angesehensten Männern. In den griechischen Gegenden des Reiches suchten die Sophisten um jeden Preis die Stelle zu behaupten, die sie in der Zeit der Antonine innegehabt543. Da sie aber zugleich als neuplatonische Philosophen und Wundertäter wirkten, so hat ihr Geschichtschreiber Eunapius ihre rhetorische Tätigkeit weit weniger beachtet; höchstens charakterisiert er ihr äusseres Auftreten und bewundert ihre Prätensionen. Was sich auf Athen bezieht, wird im letzten Abschnitt berührt werden; hier ist nur auf die unhaltbare Konkurrenz des heidnischen Sophisten mit der christlichen Predigt hinzuweisen. Der Kampf war, einen Gegenstand der öffentlichen Teilnahme gegen den andern gehalten, auf die Länge ein gar zu ungleicher. Nicht jeder Rhetor aber mochte sich mit dem Trost begnügen, welchen Themistius544 vorschützt: »Die Rede des Philosophen taugt nicht weniger, auch wenn sie unter einer einsamen Platane vorgetragen wird und niemand zuhört als die Zikaden.«
Wenn nun auch fast in allen Hervorbringungen des vierten Jahrhunderts der Verfall sich verrät durch gesuchte und geschraubte Form, Häufung der Sentenzen, Missbrauch der Metaphern für das Einfache und Alltägliche, modernen Schwulst und künstliche altertümliche Trockenheit, so ruht doch noch ein eigentümlicher Abglanz der klassischen Zeit auf manchem dieser Schriftsteller. Sie offenbaren noch ein Bedürfnis nach künstlerischem Stil, das uns in der Regel fremd ist; dass es bewusst und absichtlich herauskömmt, ist Schuld der sinkenden Zeit, welche sich und ihre Bildung recht deutlich als eine sekundäre, abgeleitete empfand und die grossen Muster nur ängstlich und ungleich nachahmte. Man kann aber zum Beispiel Schriftsteller wie Libanius und Symmachus, die aus jedem Briefchen ein kleines Kunstwerk machen, unmöglich geringschätzen, auch wenn sie dabei mit zu grosser Wichtigkeit zu Werke gehen und ausser dem Adressaten noch deutlich auf ein lesendes Publikum rechnen, gerade wie einst Plinius und andere. Symmachus wusste übrigens, dass und weshalb die ciceronischen Zeiten für die Briefstellerei vorüber waren545.
Ist nun der formelle Verfall der Dichtung und Darstellung bei einem Volke immer auch ein nationaler Verfall? Sind jenes nicht Blüten, welche abgefallen sein müssen, bevor eine Frucht zu reifen vermag? Kann nicht das Wahre an die Stelle des Schönen, das Nützliche an die Stelle des Angenehmen treten?
Die Frage im allgemeinen mag unentschieden bleiben, und auf Alternativen wie die letztern lässt sie sich überhaupt nicht zurückführen. Das aber fühlt jeder, dem das klassische Altertum auch nur im Dämmerschein entgegengetreten, dass mit der Schönheit und mit der Freiheit auch das wahre antike Leben, der bessere Teil des nationalen Genius dahinging, und dass die rhetorisierende Orthodoxie, welche der griechischen Welt übrigblieb, nur als ein toter Niederschlag von dem einstigen wunderbaren Gesamtdasein gelten kann.
Fußnoten
470 Arnob., Adv. gentes I. – Tertullian an vielen Stellen.
471 Quaest. natur. III, praef. Er braucht das Wort latrocinia. – Die Klagen über den Verfall der einzelnen Sphären des geistigen Lebens seit der Kaiserzeit würden hier einen beträchtlichen Raum einnehmen. Was der ältere und der jüngere Plinius, Petronius u. a. über Kunst und Literatur sagen, ist schon oft zitiert worden. Plinius d. J. gibt Ep. VI, 21 wenigstens zu, dass die Natur noch nicht erschlafft sei, und dass sie noch immer begabte Menschen hervorbringe. Vgl. auch III, 21 und das Proömium des Florus, welcher das Greisenalter der römischen Welt zugibt, aber bei Trajan von Wiederverjüngung spricht.
472 Philostratus in den Vitis sophistarum gibt viele Beispiele an, s. z. B. II, 9.
473 Νεωτέρων τε και αδόξων, Dio Chrys., Orat. XXI, p. 271. Einen derartigen Wink gewährt auch die Erzählung bei Dio Cassius LXVI, 25 über die Schauspiele bei der Einweihung des Kolosseums und der Titusthermen; die Seeschlachten auf den Bassins stellten nicht etwa römische Siege, sondern die Kämpfe zwischen Korcyräern, Syrakusiern und Athenern aus der Zeit des Peloponnesischen Krieges dar.