Einen ganz gesunden Zustand der Gesellschaft und des Individuums setzt dies Einsiedlerleben nicht voraus; es gehört vielmehr in Zeiten der Krisis, da viele gebrochene Gemüter die Stille suchen, während zugleich viele starke Herzen irre werden an dem ganzen Erdenleben und ihren Kampf mit Gott fern von der Welt durchkämpfen müssen. Wer aber dem modernen geschäftigen Treiben und der allersubjektivsten Lebensauffassung anheimgefallen ist und von diesem Gesichtspunkt aus jene Einsiedler gerne in eine Zwangsarbeitsanstalt stecken möchte, der halte sich nur selber nicht für sonderlich gesund; dieser Ruhm käme ihm so wenig zu als manchen Leuten des vierten Jahrhunderts, welche zu schwach oder zu oberflächlich waren, um die geistigen Mächte auch nur zu ahnen, die jene Riesennaturen in die Wüste trieben. Sehen wir aber ab von dem persönlichen Gewinn oder Verlust, den der Ascet in der Thebais oder auf den Gebirgen von Gaza davontragen mochte, so bleibt eine ungeheure historische Wirkung übrig, welche der Geschichtsforscher auf seine Weise zu würdigen hat. Jene Einsiedler sind es gewesen, die dem ganzen geistlichen Stande der folgenden Jahrhunderte die höhere, ascetische Haltung des Lebens oder doch den Anspruch darauf mitteilten; ohne ihr Vorbild wäre die Kirche, das heisst der einzige Anhalt aller geistigen Interessen, völlig verweltlicht und hätte dann der rohen materiellen Gewalt unterliegen müssen. Unsere Zeit aber, in der Annehmlichkeit der freien geistigen Arbeit und Bewegung, vergisst es gar zu gerne, dass sie dabei noch von dem Schimmer des Überweltlichen zehrt, welchen die Kirche im Mittelalter der Wissenschaft mitgeteilt hat.
Die ersten christlichen Einsiedler sind Ägypter und Palästinenser, welche in der Nähe ihrer Heimat selbst ein einsames, wenigstens zurückgezogenes Leben führten und jüngere Leute zu sich wie in eine Lehre nahmen755. Allein den Gemütern eines Paulus (geb. 235, gest. 341), eines Antonius (geb. 252, gest. 357), eines Hilarion (geb. 292, gest. 372) genügte dieses halbe Eremitentum nicht; um vor den Verlockungen der Erde völlig sicher zu sein und sich Gott ganz zum Opfer zu bringen, verschwinden sie aus der Welt und leben sechzig, achtzig Jahre in der eigentlichen Wüste. Einzelne geraten auf der Flucht vor den christenverfolgenden Römern in die Einsamkeit hinein756, die meisten aber suchen dieselbe um ihrer selbst willen und mögen sie dann gar nicht mehr verlassen, weil sie ihnen zur Heimat geworden ist und weil sie ohne Schauder gar nicht mehr an das Leben draussen im Saeculum, in der verdorbenen Gesellschaft denken können. Und auch »als die Welt christlichen Anstrich erhielt, trieb es wahrlich nicht die unwürdigsten Glieder der christlichen Gesellschaft zeitweise oder für immer in die Wüste hinaus, um dort die Freiheit zu finden, die aus der siegreichen Kirche verschwunden zu sein schien. Im ersten Jahrhundert seines Bestehens ist dieses Mönchstum ein ehrwürdiges Zeugnis gegen die Lüge der constantinischen Schöpfung«757.
Paulus der Eremit lebte in einem unentdeckbaren Felsversteck, wo einst zur Zeit der Kleopatra Falschmünzer ihr Wesen getrieben; an den Wänden ringsum hatten sie sich Höhlen zurechtgemacht, in welchen er noch rostige Ambosse, Hämmer und Prägezeug vorfand; eine uralte Palme überschattete, ein Quellchen bewässerte den sichern Raum. – Antonius, der sich zuerst unweit seiner Heimat (bei Herakleopolis in Mittelägypten) auf dem Lande zum Anachoreten vorbereitet, dann sogar lange in einem Grabmal, später in einem verlassenen Kastell voller Schlangen gewohnt hatte, wich endlich vor dem Zudrang der Frommen in jene von Felsen geschützte Oase, von welcher unten die Rede sein wird. – Hilarion von Tabatha bei Gaza sucht sich das verrufenste Raubrevier seiner Gegend, zwischen Meer und Sümpfen, absichtlich aus, um dort zuerst ohne Obdach, dann in einer kleinen Rohrhütte, nachher in einer steinernen Zelle von fünf Fuss Höhe Gott zu dienen. – Die Entbehrungen, welchen diese im Überfluss erzogenen Menschen sich unterzogen, sind so furchtbar, dass nur ein ausserordentlicher Organismus ihnen die Spitze bieten konnte758; die Geringfügigkeit und Schlechtigkeit der Nahrung wird – für unser Gefühl – noch überboten durch den abscheulichen Schmutz und das Ungeziefer, zu dessen Duldung diese Männer sich verpflichtet glaubten wie im vierzehnten Jahrhundert ein Bruder Amandus (Suso) und andere. Eine Reaktion dieser Art war übrigens ganz natürlich, nachdem die vorhergehenden Geschlechter in den prachtvollsten Thermen aller Üppigkeit gedient hatten. Die grösste Entbehrung, diejenige des menschlichen Umganges, mag ganz ausser Berechnung bleiben; das einzige geistige Mittel der Erhebung war, dass die Eremiten die Bibel auswendig wussten. Dies schützte sie jedoch nicht gegen die heftigsten innern Kämpfe, welche sich zum Teil durch scheinbar äussere, dämonische Anfechtungen kundgaben. Man könnte hier an die Personifizierung alles Geistigen denken, welche dem Altertum eigen ist, allein es bedarf einer solchen Hinweisung nicht einmal. Bald ist es die eigene Sinnlichkeit, bald die Erinnerung aus dem frühern Leben, bald der Reflex der Wüste und ihrer Naturschrecken, was die Einsiedler mit angstvollen Visionen heimsucht. Weltberühmt, jedoch durch Jacques Callot auf immer in das Reich des Burlesken gewiesen, ist die Erscheinung des grossen höllischen Heeres in dem Grabmal, das dem Antonius zur Wohnung diente: »Da öffneten sich die Wände, und die Dämonen erschienen als Schlangen, Löwen, Stiere, Wölfe, Skorpionen, Pardel und Bären, alle brüllend und drohend.« – Andere Male treten sie in menschlicher Gestalt auf, lärmend, pfeifend und tanzend, und schlagen den Heiligen halb tot. Noch bunter sind die Visionen des Hilarion; jede Nacht erhebt sich um ihn herum spukhafter Lärm aller Arten, Kindergeschrei, Blöken von Schafherden, Gebrüll von Stieren, Schritte eines Kriegsheeres; bei hellem Mondschein stürzt ein Wagen mit wilden Rossen auf ihn zu, wird aber bei dem Angstruf »Jesus!« von der Erde verschlungen; nackte Weiber, reichbesetzte Tische erscheinen, oder es springen Wölfe und Füchse vorbei, während der Heilige betet; einmal entsteht vor seinen Augen ein Gefecht von Gladiatoren, deren einer sterbend ihm zu Füssen stürzt und mit brechendem Blick ihn um ein Begräbnis bittet. Ja, der böse Geist nimmt auch jene schauerliche Art an, die das Gespenst in Sindbads Reisen so unvergesslich macht; er springt dem zum Gebet knienden, aber etwas zerstreuten Hilarion rittlings auf den Rücken, stemmt ihm höhnend die Fersen in die Seiten und will sich gar nicht mehr abschütteln lassen. – Am leichtesten werden diese Eremiten noch mit gewissen Dämonen fertig, welche ganz ehrlich in ihrer wahren Gestalt, als Satyrn und Centauren, erscheinen und bisweilen sogar Bekehrung und Fürbitte wünschen. Der grosse Hieronymus, der759 in betreff der Centauren nicht entscheiden will, ob sie eine blosse Verkappung des Teufels seien oder ob die Wüste wirklich solche Geschöpfe hervorbringe, beharrt dagegen auf der Echtheit des Satyrs, welcher dem heiligen Antonius auf der Reise zum heiligen Paulus den Weg wies und ihn um Fürbitte flehte; unter Constantius sei ja eine solche Kreatur in der Wüste gefunden, lebendig nach Alexandrien gebracht und nach bald eingetretenem Tode eingesalzen nach Antiochien gesandt worden, damit der alldort residierende Kaiser einen Augenschein nehmen konnte. Der Satyr des heiligen Antonius war übrigens den Bocksfüssen und Hörnern zufolge ein Panisk, der ausserdem die krumme, gebogene Nase aus der mutwilligen alten Zeit beibehalten hatte760.
Nach der Zeit dieser Beängstigungen folgt in dem Leben des Asceten eine andere, die er nur mit geteiltem Gefühl betrachten kann. Die hilfsbedürftige Welt entdeckt ihn, erkennt in ihm das Hohe und Ungewöhnliche und zieht ihm nach in die Wildnis. Er wird Wundertäter, nicht