Es waren eher dreieinhalb, doch Frank wies ihn nicht darauf hin. Ebenso gut konnte es auch schon ein Jahrzehnt sein. Zahlen waren unerheblich, wenn man sich in guter Gesellschaft befand.
Frank zeigte mit einem Daumen auf Chia, der durch die zerbrochene Windschutzscheibe Ausschau hielt, während er selbst erzählte: »Wir haben uns direkt nach dem Zusammenbruch kennengelernt. Als die Regierung zerfiel und alles im Chaos versank.«
»Ich war damals mit meiner Frau und meinem Jungen unterwegs«, fügte Chia mit geübter Distanziertheit hinzu. »Josie und Bryan. Leben beide nicht mehr.«
Duckie sah verwirrt aus, als er das hörte. Er suchte O'Briens Blick, die ihm verständnisvoll zunickte, und dann fiel schließlich der Groschen bei ihm. Dodger in der Mitte zwischen ihnen starrte währenddessen angeödet aus dem Fenster.
»Wir trafen Quebra … das ist jetzt über ein Jahr her, nicht wahr? Ihn und Kotz.« Chia schaute Frank an, der halb mit den Achseln zuckte und halb nickte. Der Alte fuhr fort: »Kotz … das arme Schwein. Er tappte in eine alte Biberfalle und verlor seinen Fuß, danach wurde er dann krank. Wir haben nie erfahren, ob die Falle noch aus der Zeit vor dem Zusammenbruch stammte und aus hehren Gründen aufgestellt worden war oder von irgendwelchen Verrückten.«
Quebra hatte seinem Soldatenkameraden daraufhin den Gnadenschuss versetzt.
Frank wusste noch, dass er selbst außerstande gewesen war, es mit anzusehen, wohingegen sich Chia dazu gezwungen hatte. Seiner Erklärung zufolge habe er lernen müssen, brutal zu sein. Der alte Mann brauchte, wie es schien, immer noch Unterricht darin, doch das störte Frank keinen deut.
»Mittlerweile wissen wir also, dass Mary Lehrerin und Duckie ihr Schüler gewesen war«, rekapitulierte Frank. »Du warst ebenfalls Schülerin Caitlin. Autumn, was hast du vor alledem getrieben? Ich meine beruflich.« Den Nachsatz hängte er an, um nicht zu aufdringlich zu wirken.
»Ich war Kassiererin.« Mehr sagte sie nicht, was allerdings auch durchaus angemessen bei der Frage war, wie Frank fand.
»Fehlst nur noch du, Dodge«, fuhr er fort.
»Bin auch noch zur Schule gegangen«, antwortete Dodger, »und meinem werten Herrn Vater im Büro zur Hand gegangen. Für den Senator habe ich hin und wieder auch ein bisschen PC-Kram erledigt, ich galt nämlich als Computerwunderkind.« Frank hätte gern gewusst, ob Dodger über irgendwelche Interna bezüglich des Höllengängers und der Little Ones verfügte. Da der Mann jedoch nicht weiter darauf einging, widmete sich Frank nun seinem Freund.
»Chia hier ist ein Tausendsassa, so etwas wie ein Schweizer Armeemesser.«
»Das ist nur beschönigend für rastloser Rentner.« Der Alte grinste zurückhaltend. »Ich habe immer gesagt, dass ich bis zu meinem Tod arbeiten möchte, und na ja, bin wohl auf dem besten Weg dorthin, nicht wahr? Das Leben an sich ist schließlich heute schon eine Plackerei.«
»Wie steht es mit dir, Frank?«, meinte Autumn. Er dachte, sie sei verärgert, weil er sie in Verlegenheit gebracht hatte, aber sie machte einen aufrichtig neugierigen Eindruck.
»Ich schrieb Texte für eine Werbeagentur«, gab er an. »Anzeigen in Zeitschriften größtenteils und überwiegend für Nahrungsmittel. Aufregend, ich weiß, ich war so begeistert davon, wie ihr jetzt alle ausseht, aber ich habe damit anständiges Geld verdient.«
»Hattest du eine Familie?«, bohrte Autumn weiter nach.
Er studierte ihre Züge, soweit dies in dem dunklen Bus möglich war. Versuchte sie vielleicht doch, ihm eins auszuwischen, damit er sich merkte, dass er nicht herumschnüffeln durfte, wenn es um sie und ihre Schwester ging? Er konnte es nicht genau sagen, doch niemand durfte dadurch Genugtuung erhalten, dass er dichtmachte. Niemand sollte Franks Tragödie für etwas anderes halten als exakt das, was sie gewesen war.
»Ich lebte geschieden – eine Ehe ohne Kinder –, traf mich aber gerade regelmäßig mit einer Frau, als alles zur Hölle ging. Sie wurde überfahren. Die Unruhe im Volk, die wir alle miterlebt und ignoriert hatten, war zu Krieg ausgeartet, und … ich kann nicht einmal nachvollziehen, wie man es als Krieg bezeichnen konnte, doch das tat man. Schätze, im Grunde genommen dauert er sogar weiter an, nur lassen sich anscheinend keine eindeutigen Parteien bestimmen, nicht seit die Regierung hinfällig geworden ist. Es handelt sich lediglich um Menschen, die aufgeben.
Wie dem auch sei: Auf den Straßen herrschte Panik. Es gab einen zwielichtigen Bericht, dem zufolge einer der Little Ones unterwegs zu uns war. Wir überquerten gerade eine Straße, sie stolperte, und ein Lastwagen rollte einfach über sie hinweg. Das war's.«
In einiger Entfernung donnerte es. Als die Insassen des Familienbusses durch die fensterlosen Rahmen hinausschauten, um zu bestimmen, aus welcher Richtung das Geräusch kam, blickte Frank in die aufsteigende Sonne und spürte plötzlich einen dumpfen Schmerz in der Brust. Daraus ergab sich eine Anspannung, die auf seine Gelenke abstrahlte. Shit. Komm schon, Mann, ist doch nur Regen, du musst dich nicht aufregen. Ihn beschlich stets das Gefühl, Feuchtigkeit und Niederschlag würden sein Leiden noch verschlimmern, doch kein Arzt hatte ihm das je bestätigen können. Es war reine Kopfsache, er musste sich nur beruhigen und von der Sonne wegschauen …
***
Damals, bevor alles in die Binsen gegangen und das Träumen zur Bedeutungslosigkeit verkommen war, hatte Frank im Schlaf aberwitzige Dinge erlebt. Die meisten hatte er aufgeschrieben und war dem Wachtraum aufgesessen, eines Tages Schriftsteller zu werden – ein richtiger Autor –, der Werbebranche den Rücken zu kehren und aus seinem umfangreichen, zerfledderten Traumtagebuch Romane zu stricken. Doch dazu war es nie gekommen. Was den Traum von heute Morgen betraf, so hatte er nicht einmal mehr Stift und Papier, um die Details festhalten zu können, doch Frank würde sie behalten, und zwar für immer, weil ihn dieser Traum fast das Leben gekostet hätte.
***
Er stand auf einem gepflasterten Weg am Fuß eines Hügels. Es war der Ausläufer eines Gebirges, und der Weg führte genau dort hinein, aber die sorgsam ausgelegten Steine wichen bald unbefestigten Serpentinen, und der Berg selbst verschwand in der Höhe wie ein Turm im Nebel, wobei Frank nur eines in den Sinn kam: Höllengänger! Höllengänger heute, ein regloser, künstlicher Berg im – nein, eigentlich auf dem Ostteil von Chicago, der am Michigansee lag.
Trotzdem machte er sich auf den Weg nach oben, hastig sogar, um das Pflaster hinter sich zu lassen und den Pfad zu betreten. Als er die Füße darauf setzte, erschien plötzlich eine Frau vor ihm.
Er nahm zumindest an, es sei eine Frau. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt, ein beachtlicher Anblick: lang, schlank und offenbar umschlungen von rötlich braunen Ranken. Ihre Haut war hellgrau und sah aus, als fühle sie sich kalt an. Die Ranken wuchsen an den Hüften zu Bündeln zusammen, die ihr Gesäß einrahmten, sich dann wieder voneinander lösten und wie Wasser an ihren langen, geschmeidigen Beinen hinunterflossen. Ihr Hinterkopf wurde in ähnlicher Weise von adrig anmutendem Pflanzenmaterial umschlossen, obwohl es hier und dort von Dornen gespickt war. Es war eine Frau, eine Graue Frau, und als sie sprach, wusste er, dass sich ihre Lippen nicht bewegten.
Wer bist du?, fragte sie. Ihre Stimme hatte etwas Vorwurfsvolles an sich, so wie jene einer Lehrerin, die auf einen Jungen gestoßen war, der im Schulflur herumgammelte.
Herumgammeln, dachte Frank. »So würde ich mich niemals ausdrücken.« Dann wurde ihm bewusst, dass er laut gesprochen hatte.
Bei den nächsten Worten spürte er, dass sich ihr Mund bewegte. Sie wollte wissen: »Woher kommst du?«
Weil ihm nichts Besseres einfiel, antwortete Frank: »Aus Connecticut – ursprünglich.«
Die Frau begann, langsam auf dem Pfad weiterzugehen. Die Ranken an ihren Beinen wiegten sich dabei geräuschvoll wie ein Perlenvorhang. Frank nahm verzögert wahr, dass er ihr folgte. Irgendwann fiel ihm auf, dass sie barfuß ging, aber der natürliche Grund mit seiner unebenen Beschaffenheit und all den Steinchen tat ihr offenbar nicht weh. Als er die Graue