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Als es hell genug war, um den Feldstecher benutzen zu können, stand Quebra auf, stützte die Ellbogen auf das Dach einer auseinandergenommenen Limousine und schaute hindurch.
»Da ist er«, raunte er ehrfürchtig und verkrampfte dabei seinen ganzen Körper. »Gleich dort drüben liegt er, compadres.«
Dodger fuhr sofort hoch. »Lass sehen.«
Ohne das Fernglas von den Augen zu nehmen, entgegnete Quebra: »Tu dir keinen Zwang an.«
Alle erhoben sich und näherten sich ihm langsam von hinten, als könne er sie beschützen, falls das Wesen plötzlich wieder zum Leben erwachte und sie entdeckte. Dass so etwas passieren konnte, hatte Frank zwar noch nie gehört, nicht einmal in den irrsten Räuberpistolen anderer Nomaden, aber er rechnete insgeheim trotzdem halb damit. Seine Knie knackten und knirschten, als er sich von seinem Platz auf der Straße aufraffte und neben den Soldaten stellte.
Großer Gott, er war nur noch hundert Yards entfernt. Der riesige, fürchterliche Kopf lag in einem Asphaltkrater auf dem Parkplatz eines Schnellimbisses. Er war tatsächlich gleich dort drüben.
So nahe war Frank einem von ihnen noch nie gewesen, und als die Sonne endlich aufging, sah er den sogenannten Little One in all seinen abscheulichen, erschreckenden Einzelheiten so deutlich vor sich, dass er fast zusammenzuckte. Es war so, als bemerke man, dass man schlafwandelte, kurz bevor man eine Hand auf eine glühend heiße Herdplatte legte. Dodger und Autumn fuhren in ähnlicher Weise zusammen, wobei sich Letztere fest an Caitlins Oberarm klammerte. Der Kopf des Little Ones war lang und schmal, insgesamt schnabelförmig und abstoßend scharfkantig. Er erinnerte an eine Pinzette mit Zähnen, allerdings aus glattem, knochenartigen Material, eine Art Panzer oder Exoskelett, wie Frank annahm. Sie waren im Fernsehen gezeigt worden, als man noch gesendet hatte und er kannte sie von Fotos aus der Zeit, als es noch Fotografie gegeben hatte. Manche Menschen nannten sie Beingiganten, doch jetzt aus unmittelbarer Nähe sah er, dass die Beschaffenheit der Kreatur eher versteinertem Holz als Knochen glich. Entlang der spitzen Schnauze, die sich zu Greifhaken verjüngte, konnte er eine feine Körnung erkennen. Das Maul war geschlossen, doch Frank hatte schon Aufnahmen des offenen Schlunds gesehen. Statt schnappender Ober- und Unterkiefer spreizten sich bei ihnen vier Mandibeln und zuckten in der Luft herum wie die Finger einer gierigen Hand. In deren Innenfläche hatte Frank einen Blick auf ein nasses Loch wie eine Wunde erhascht, den eigentlichen Rachen. Sie hatten Menschen gefressen, das war eine Tatsache. Allem Anschein nach mussten sie das nicht; allem Anschein nach lebten sie von nichts außer ihrem Hang zu mutwilliger Zerstörung. Lange stachelige Arme mit wulstigen Fäusten zerschlugen Fahrzeuge und Gebäude. Frank hatte sich den Film angesehen. Ihre eigentümlich gebeugten Beine pflügten dabei unumwunden durch Brücken, als ob die Bauwerke kein Recht besäßen, dort zu stehen, und die Brücken stürzten einfach ein: mit Autos, Stahltrossen und Menschen. So etwas taten die Little Ones, wenn sie lebten. Dieser hier lag allerdings vollkommen bewegungslos da, und sein blutroter Augapfel wurde von etwas geschlossen gehalten, das aussah wie eine Knochenscheibe. Er erweckte den Eindruck, so tot zu sein, wie man es sich nur vorstellen konnte, zumindest insoweit, wie Frank ihn sehen konnte. Denn der Rest des Körpers unterhalb der Schultern lag verborgen hinter einem Einkaufszentrum, das von einem längst ausgebrannten Feuer verrußt war. »Wie lang ist er?«, wollte Caitlin wissen. Die Frage war an Chia gerichtet. Er antwortete: »Größer als ein paar Hundert Fuß werden sie nie, soweit ich weiß.« Dreihundert Fuß aber entsprach zum Beispiel fünfzig Menschen übereinander oder auch der Höhe eines Bürohochhauses, es bedeutete verdammt noch mal Ende im Gelände, wenn er auf dich trat. Aber er gab bei allem Schrecken, den er erregte, ein wirklich atemberaubendes Bild ab. Man versetze sich nur einmal in jenen Augenblick, als er hier niedergegangen war … wie die Erde gebebt, und wie jedes noch intakte Fenster in der Umgebung zerbrochen sein musste … wie aufgegebene Fahrzeuge gesprungen und die Schutzwälle eingestürzt sein mochten! Wenn sich ein Little One bewusst und mit Absicht bewegte, war es noch schlimmer, wie Frank wusste. Er wollte kein solches Monster mehr lebendig sehen, nicht nach dem Letzten. »Wenn das ein Little One ist«, fragte Caitlin, »wie groß ist denn dann ein Big One?« In Augenblicken wie diesem wandte sich anscheinend jeder an Frank. Gerne hätte er ihnen bei solchen Fragen entgegnet, dass er Werbetexter war, kein Dichter und schon gar kein Journalist, doch sie wollten, dass er es ihnen erzählte. Er hatte es zwar lediglich in den Nachrichten gesehen – der Rest der Gruppe auch, soweit er wusste –, doch sie erachteten ihn trotzdem als ihren Fachmann im Umgang mit Worten. Caitlin folgte den Blicken der anderen, wobei ihre fragenden Augen funkelndes Sonnenlicht auf ihn warfen. Er wandte sich kurz von ihr ab und räusperte sich, bevor er sprach: »Ein Big One ist … bist du jemals mit einem Flugzeug gereist, Cate?« »Als Baby«, erwiderte sie. »Ich kann mich nicht mehr daran erinnern.« Da sie neunzehn war, musste sie auf die Welt gekommen sein, kurz, nachdem das alles begonnen hatte und bald darauf hatten kommerzielle Fluggesellschaften den Betrieb wohl nach und nach eingestellt. Frank überlegte ein paar Sekunden lang. »Also, Flugzeuge wie sie dich und mich damals befördert haben, stiegen für gewöhnlich dreißigtausend bis fünfunddreißigtausend Fuß hoch, bis in die Wolken also. Manchmal ist man über ihnen geflogen und konnte von den Fenstersitzen aus auf sie hinunterschauen, das war schon ziemlich fantastisch.« Es stimmte wirklich. Der Mensch hatte zu jener Zeit den Himmel und darüber hinaus noch weitaus mehr beherrscht, die ganze Exosphäre mit ihrem unvorstellbaren Wust aus Satelliten und Schrott. Doch in diesem Fall ging es um den Big One, der jetzt in Chicago stand, bereits seit Jahren schlafend. Was schlafend bedeutete, war dahingestellt. Die meisten Menschen ließen es geflissentlich darauf beruhen, damit ihre wiederkehrenden Albträume nicht noch schlimmer wurden. »Der Big One«, fuhr Frank fort, »ist ungefähr sieben Meilen hoch. Das sind annähernd siebenunddreißigtausend Fuß. Er schwebt also nicht nur sprichwörtlich mit dem Kopf über den Wolken.« Caitlin nahm diese Redewendung nicht zur Kenntnis, und so sprach er einfach weiter: »Der höchste Berg auf der Erde ist der Mount Everest, und der Big One überragt ihn noch einmal um achttausend Fuß. Man hat nie herausgefunden, wie so etwas Hohes und Schweres überhaupt laufen kann.« »Die meisten Leute nennen ihn übrigens gar nicht Big One«, warf Quebra ein, der immer noch durch seinen Feldstecher schaute. »Sie sprechen von dem Drachen und dergleichen. So sieht er aber gar nicht aus, besonders jetzt nicht. An etwas, das so groß ist, einzelne Merkmale auszumachen ist schwierig. Er war schon immer eher wie ein sehr hoher Berg.« »Mir hat es der Ausdruck Höllengänger angetan«, meinte Chia leise. Er schaute die anderen an. »Sehr theatralisch … wie aus der Bibel, finde ich, aber wenn mir je etwas von biblischem Ausmaß untergekommen ist, dann dieses Ding.« Andere nannten es einfach das Tier, und es gab je nach Sprachraum und Religionszugehörigkeit noch weitere Variationen, doch Chia hatte recht: Höllengänger brachte es durchaus treffend auf den Punkt, nur dass die Kreatur nicht mehr ging und es – so Gott existierte – auch nie wieder tun würde. Außer natürlich, er selbst hatte sie gesandt. Autumn zeigte auf den Little One, der auf dem Parkplatz lag. »Wir haben schon einmal einen gesehen. Dabei waren wir zwar nicht ganz so nahe dran wie jetzt, aber …« Ihre Stimme verklang, und sie drückte Caitlin fest an sich. Fast hätte sie sich dazu hinreißen lassen, etwas Persönliches zu äußern und eine Vorgeschichte preiszugeben. Caitlin tat es dann tatsächlich: »Ich erinnere mich. Weil ich hinten im Van unter einem Haufen Zeug lag, bekam ich nichts davon mit, aber es muss zu der Zeit gewesen sein, als wir noch im Tornadogürtel gewesen sind. Ich habe drei Windhosen, die hinter uns hergejagt sind, gesehen, bevor mein Kopf unter ein paar Gepäckstücke geschoben wurde.« Sie schaute Autumn aus den Augenwinkeln an, um anzudeuten, dass ihre große Schwester dies getan hatte. »Wir sind dort aufgewachsen. Es heißt, die Stürme seien wegen der Monster nur noch heftiger geworden. So sind auch Mom und Dad gestorben.« »Caitlin!«, herrschte Autumn sie an. »Stimmt doch! Und wir versuchten dann, diese drei Tornados mit den Gundersons zusammen in deren Van abzuhängen. Dann erblickte Autumn aber einen Little One hinter den Windhosen und drückte mich runter, bevor ich ihn auch sehen konnte. Sie meinte, sie könne ihn ganz deutlich erkennen, und er würde laufen!« Frank sagte nichts dazu, sondern vollzog nur den Stimmungswandel zwischen den Geschwistern mit, aber Duckie meldete sich zu Wort: »Er rannte vor den Wirbelwinden weg? So heißen Tornados nämlich auch: Wirbelwinde.« »Richtig«, bestätigte Caitlin mit abwesendem Blick, »aber nein, er ist hinter uns hergelaufen.« »Sie haben es also doch auf Menschen abgesehen«,