Kapitel 2
Indem Quebra zwei Schritte nach vorne machte, zwang er die Gruppe zum Auseinandergehen und riss dabei sein Sturmgewehr hoch. »Mills!«, brüllte er und gab zwei Schüsse ab.
Caitlin zuckte zusammen und Duckie hielt sich die Ohren zu. Frank drehte sich um und folgte Quebras Schusslinie zu einem Parkhaus neben der Ruine eines Krankenhauses auf der anderen Straßenseite. Es dauerte einen Augenblick, doch dann erkannte er einen Schatten, der auf dem Dach des Gebäudes kauerte. Von der Straße aus und im frühmorgendlichen Licht tat sich Frank schwer damit, die Gestalt als Mills zu identifizieren, aber er verließ sich auf Quebra, zumal es ihn auch nicht im Geringsten überraschte.
Sie waren Mills weniger als einen Monat zuvor begegnet, nicht lange nach Autumn und Caitlin. Die Frau hatte ihnen erzählt, sie habe einmal für die Seuchenschutzbehörde gearbeitet, und in einem Bunker vor Kansas City lagere ein regelrechter Schatz an Impfstoffen, Antibiotika sowie anderer medizinischer Versorgungsgüter. Die Gruppe hatte ihr geglaubt und war deshalb hier. Sie hatten sich darauf eingelassen, weil es unmöglich und in niemandes Urteilsvermögen, einen böswilligen Grund dafür geben konnte, so etwas fälschlicherweise zu behaupten. Warum sonst sollte man sich nach Illinois und damit zu einem Höllengänger wagen, sich also einer Großstadt nähern, die sehr wahrscheinlich weiterhin ein Ziel der Little Ones war? Warum eine Geschichte von Arzneimitteln erfinden, wenn dabei weder Obdach noch materielle Bereicherung in Aussicht stand? Ein solches Unterfangen war selbstmörderisch. Sechs Menschen durch ein solches Fegefeuer schicken und kurz vor dem Ziel zuzugeben, es sei nur ein Märchen gewesen.
Was das anging, hatten sie Mills schlecht gekannt. Falls es irgendwie hilfreich gewesen war, dann als kalte, harte und eindrückliche Lehre über menschliche Monster. Mills hatte sie belogen, weil sie verrückt war und sich, um es mit ihren eigenen Worten zu sagen, gelangweilt habe.
Als sie ihnen schließlich reinen Wein eingeschenkt hatte, dastehend auf einem verheerten Freeway am Stadtrand von Kansas City, war sie ganz sachlich geblieben. Nicht einmal niederträchtig gelächelt hatte sie, sondern einfach nur gemeint: »Vielleicht hätte ich euch gleich sagen sollen, dass ich in Wirklichkeit niemals für den Seuchenschutz gearbeitet habe.«
Mills war mittleren Alters und sah … na ja … normal aus. Frank glaubte, sie auf so eine Art und Weise einzuschätzen, verrate ein gewisses Vorurteil, dem er selbst aufsaß, doch feststand: Er hatte sie für eine normale Person gehalten, die unmöglich psychopathisch sein konnte, sie alle hatten das getan. Dahinter steckte mehr als der Wunsch, ihre Aussagen glauben zu wollen, nämlich die Annahme, dass eine weiße Frau über vierzig einfach keine gemeingefährliche Irre sein konnte.
Tja, Lektion gelernt.
Es war ja auch nicht so, dass jemand von ihnen an einer Krankheit gelitten hätte, jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinn. Das sagenumwobene Lager des Seuchenschutzes zu erreichen war nicht wirklich dringend notwendig für sie. Bei Franks Leiden handelte es sich um eine genetisch bedingte Bindegewebsschwäche, und einige in der Gruppe wussten noch nicht einmal davon. Was die übrigen Mitglieder betraf, so wirkten sie zumindest gesund. Es bedurfte ja auch einer aktiven Gruppe, um so weit kommen zu können. Sie hatten ein gutes stabiles Verhältnis zueinander, und auch wenn sich ihre höchsten Ziele darauf beliefen, den nächsten Sonnenaufgang zu erleben, schöpften sie Sinn aus einer Welt, in der nichts mehr Sinn ergab.
Aber Mills war einfach nur gelangweilt gewesen und hatte sie deshalb betrogen. Sie hatte ihnen gesagt, sie wundere sich darüber, dass sie ihr tatsächlich so verflucht weit bis nach Kansas City gefolgt seien, und dann hatte sie versucht, Chia mit einem spitzen Stein zu erschlagen, als er ihr zu nahe gekommen war.
Quebra hatte sein AR-15 genommen und ihr den Griff auf den Schädel geschlagen. Als sie wieder zu sich gekommen war, hatte Mills feststellen müssen, dass sie mit einem Seil aus seinem Rucksack gefesselt worden war.
Chia war derjenige gewesen, der sie schließlich angesprochen hatte. »Wir haben darüber diskutiert«, so seine Worte, simpel wie jene, die auch Mills selbst gebraucht hatte. »Wir lassen dich hier so zurück. Du darfst weiterleben, weil wir uns nicht auf deine Stufe stellen wollen, bleibst aber gefesselt. Und …« Seine Züge waren düsterer geworden, wie sich Frank entsann, und seine Falten tiefer. Chia hatte das alles nur schwerlich über die Lippen bringen können, es aber letztlich doch geschafft. »Wer auch immer dich findet, wird schnell erkennen, was du bist. Nie wieder sollst du jemandem so schaden, wie du uns geschadet hast.«
Mills hatte ihn begriffsstutzig angesehen und gefragt: »Was meinst du damit? Habt ihr mich etwa gebrandmarkt?« Dann war sie unruhig geworden. Die Vorstellung, gezeichnet worden zu sein, musste ihre Sinne geschärft haben, weshalb ihr nun auch aufgefallen war, dass ihr Rücken brannte. Auf dieser Welt litten die Menschen ständig in irgendeiner Weise körperlich, doch sie hatte einen neuen Schmerz empfunden und sich im Knien aufgerichtet, ihre zusammengebundenen Hände verrenkt und dabei mit den Zehen Halbkreise im Sand hinterlassen. »Was habt ihr getan? WELCHES WORT IST ES?«
Es war kein Brandmal, Quebra hatte ihr mit seinem Messer das Wort »LÜGNERIN« ins Kreuz geritzt.
Dann hatte er sich neben sie gekniet und ihr dieselbe Klinge ins weiche Fleisch hinter dem Wangenknochen