Nachdem er minutenlang nur sein eigenes Schlurfen und das unermüdliche Zirpen gehört hat, mit dem die Zikaden seine Wanderschaft begleiten, gelangt unser mit Erde verschmierter Geselle kleinlaut auf sein Los schimpfend an eine Einfahrt. Es handelt sich um eines jener Häuser, deren Bewohner dem Postboten gewogen sind, denn die Adresse steht vollständig ausgeschrieben in goldenen, kursiven Klebbuchstaben und -zahlen an der Mauer: Familie Miller, Kit Mitchell Road 7984.
Der Auferstandene bleibt abrupt stehen und dreht sich um. »Moment mal.« Er überlegt, und der Puls seines reanimierten Herzens setzt einmal ganz deutlich aus. »Bedeutet das jetzt etwa …«
Der Name der Besitzer spielt keine Rolle, jenen der Straße starrt er mit offenem Mund an.
Er vergewissert sich: Kit Mitchell Road.
»Nein, im Ernst, Mann. Nein.«
Er schaut zurück zu dem Stück Weg, auf dem er gekommen ist. Der Verlauf der Straße, die leichte Biegung, die Bäume am Rand. Die Landschaft ist zugewuchert, hat sich verändert und gibt ihm deshalb das Gefühl, er sei geschrumpft, seitdem er zuletzt hier war, bleibt jedoch ein und dieselbe. Er ist diese Strecke zu oft gegangen, als dass er mitgezählt hätte, wie oft. »Das kann nicht wahr sein.« Als er sich wieder ruckartig umdreht, muss er einen Schritt vorwärts machen, um sein Gleichgewicht zu halten, weil ihm schwindlig wird, entweder wegen der Hitze oder da er den Beckett-Prozess noch nicht lange hinter sich hat.
»Elender Mist«, flucht er, schnauft und lächelt verächtlich. »North Carolina, zum Donnerwetter.« Nach vorne gebeugt lässt er die Schultern hängen und steckt kopfschüttelnd die Hände in die Hosentaschen. »Arschlöcher.«
Schließlich trottet er weiter. Dabei lacht er schrill und tritt gegen jeden Stein, der auf dem Weg liegt. »Unfassbar«, stöhnt er immer wieder laut. Ein bisschen wehmütig denkt er an den Friedhof und die vielen Namen zurück, die Freunden seiner Eltern und Lehrern gehörten, einer auch jener alten Dame, die in einem Schnellimbiss arbeitete. Er schwänzte die Schule und lief Gefahr, erwischt zu werden, nur weil die Burger in dieser schmierigen Bude so verboten gut schmeckten. Kein Zweifel, er ist in North Carolina, und zudem nicht irgendwo, sondern in einer Gegend, die er persönlich kennt, da er hier aufwuchs.
»Als sei's nicht schon schlimm genug, Tag für Tag herumgeschickt zu werden, auf dass mir irgendwelche angepissten Freaks den Arsch abbeißen und ins Gesicht kotzen, muss es jetzt hier sein, wo an jeder zweiten Kreuzung und Ladentheke all die beschissenen Erinnerungen …« Er verliert seinen Schwung beim Zetern und wird immer leiser. Er hätte sowieso nicht gewusst, wie er diesen Satz zu Ende bringen sollte.
Beim Weitergehen mault und meckert er vor sich hin.
Kapitel 2
Als Galavance aufwacht, liegt sie auf einer Matratze ohne Laken und blickt an die Decke. Neben ihr surrt ein angeschalteter Ventilator, der immerzu hin und her schwenkt, als wache er über ihren zierlichen Leib. Gestern Nacht war es zu heiß für Decken oder nur ein Laken. Sie trägt ein T-Shirt der Band Papa Roach, das so oft gewaschen wurde, dass es wie mit Schrot beschossen aussieht. Als sie einen Finger durch eines der Löcher steckt, fühlt sie sich an ein Hammerspiel erinnert, bei dem Kinder auf Köpfchen klopfen müssen, und denkt kurz, dass sich das zerfledderte Oberteil von Jolby wie frische Pasta anfühlt.
Nudeln. Töpfe und Pfannen. Dampf. Küche. Stoppuhr. Zu spät. »Scheiße.«
Sie bemerkt ihren Kater nicht – hat gar keine Ahnung, dass er vielmehr wie eine eingerollte Schlange in ihrem Kopf lauert –, bis sie sich hinsetzt. Uff! Sie stöhnt. Wenig zu Abend zu essen und eine ganze Flasche Zinfandel der Marke Pennerglück zu trinken zählt nicht zu den klügsten Entscheidungen in ihrem Leben.
Der Ventilator ventiliert. Sie starrt in sein schnurrendes, weißes Plastikgesicht, während er seinen Kopf schüttelt. Tss, tss …
Die Klimaanlage des Trailers pfeift aus dem letzten Loch, und sobald sie den Ventilator ausschaltet, sodass die Luft zur Ruhe kommt, wird der schreckliche Gestank ringsum richtig penetrant. Wie überreifer Käse oder als habe jemand eine Zwiebel als Deoroller verwendet und sei in Zellophan gewickelt drei Meilen gelaufen. Übel.
Sie bleibt auf einer Ecke der Matratze sitzen und fleht das Biest mit den Krallen in ihrem Schädel an, zu verschwinden, während sie auf die Schmutzwäsche blickt, die sich in Häufchen am Boden auftürmt (und Ausläufer bildet, wo sie in die frischen Sachen übergeht). Dabei entdeckt sie etwas schrecklich Bloßstellendes: Eine seiner weißen Unterhosen, umgestülpt, mit einem erdfarbenen Fleck von der Größe eines Daumenabdrucks im Gewebe. Die Farbtöne überlagern einander, ein durchgängiges Punktmuster in Braun bis Dunkelgelb. Maiskörner vielleicht? Tatsächlich aß er neulich Abend mexikanisch. Mieser Lügner. Er behauptete, es sei Salat gewesen, doch kein Grünzeug der Welt nötigt Jolby, seine Wäsche so auszuziehen.
Sie erlebt das nicht zum ersten Mal, also was ihn betrifft jetzt – eingesaute Unterhosen, Zahnseide mit grauen Klumpen daran, die aussehen wie aufgefädelte Murmeln aus vorindustriellen Zeiten. Orangefarbene Spritzflecken an der Badezimmerwand nach Dauererbrechen um drei Uhr morgens, weil er es nicht mehr bis zum Klo schaffte. Man gewöhnt sich an solche Anblicke, wenn man sage und schreibe schon fast zehn Jahre mit jemandem zusammen ist.
Der Bursche weiß, was sie mit seiner Verdauung anstellen, doch dass diese extra-scharfen Chalupas und er wie Feuer und Wasser sind, ist ihm schnuppe. Wäscht er das dreckige Zeug? Nein.
Ach, wie stark die eigenen Skrupel mit der Zeit doch nachlassen … Früher auf der Highschool, als man sich auf dem Flur aufwendig gefaltete Zettelchen zusteckte wie Freiheitskämpfer in Gefangenschaft, die heimlich miteinander kommunizieren, war ein Furz oder selbst die Erwähnung dieses Wortes tabu, wohingegen jetzt das völlige Gegenteil zutrifft und die unverblümte Offenbarung aller Widerlichkeiten, die der männliche Körper abzusondern vermag, zum Alltag gehört. Etwa wenn er in seiner Nase bohrt, den Popel betrachtet und wegschnippt, während er tatsächlich neben ihr auf dem Secondhand-Sofa hockt.
Manchmal, wenn sie brutal ehrlich zu sich selbst ist, was ihre Beziehung mit Jolby angeht, deutet sie beiläufige Gesten wie diese als wortlose Frage: »Zu wem willst du sonst? Wir sind ja schon ewig zusammen.« Freiheitsentzug mit plumper, halboffener Faust – teils ihrerseits, teils seinerseits. Sie könnte sich jederzeit von ihm trennen, wobei die Betonung auf könnte liegt.
Während sie über Hände nachdenkt und Müsli in eine Kaffeetasse kippt, fällt ihr ein, dass sie sie manchmal gern zu Fäusten ballen und auf Jolby losgehen würde. Diese Vorstellung gefällt ihr sehr. Dann fallen ihr die Finger an sich ein und dass keiner der ihren einen Ring trägt, weder zum Zeichen persönlicher Bindung noch andere.
Er hat ihr nicht einmal seinen Siegelring zum Highschool-Abschluss geschenkt, sondern vorgeschoben, ihn wohl verloren zu haben. Keinen Freundschaftsring, ja nicht einmal einen billigen aus Zinn von Walmart. Mir wäre sogar egal, wenn er meine Finger grün färben würde. Ich will irgendwas. Das würde sie sagen, nicht wahr? Wenn es ihr so wichtig wäre. Ich bin aber eine moderne Frau. Solche Wertschätzung, solche Daseinsbestätigung sollte sie eigentlich nicht brauchen. Andererseits, ist er es mir verdammt noch mal nicht schuldig? Ich wasche seine dreckigen Unterhosen. Außerdem beschwere ich mich nicht … oder nicht oft. Im Ernst, er hat ja nicht mal 'nen Job. Außer man nimmt sein Geschwätz, er würde »Investoren suchen«, für voll. Es geht dabei um ein Grundstück in der Whispering Pines, das er gemeinsam mit seinem Kumpel Chev, noch so einem Gewinnertypen, gekauft hat, um ein Haus zu bauen. Ganz