AFTERTASTE - Jenseits des guten Geschmacks. Andrew Post. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andrew Post
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958353251
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weil der Marmor erst kürzlich bearbeitet wurde, sodass die Beschriftung deutlich erkennbar ist, unberührt noch von Regen und Wind. Die Namen wecken teilweise vage Erinnerungen in ihm, Geistesblitze wie Sirenen, die meilenweit entfernt aufheulen. Und dann diese Daten, Geburts- und Todestage … Es liegt nahe, denn in der Zwischenzeit müsste er sie alle gekannt haben. Dennoch zwingt er sich dazu, es zu verdrängen.

      Um dies zu schaffen, konzentriert er sich auf seine Umgebung. Immerhin dürfte es ihm helfen, zu erfahren, wo er ist.

      Zwei Hinweise tun sich außerhalb des Friedhofsgeländes auf. Vorm Zaun wachsen Wildblumen, dicht gedrängt am begrünten Rand des unbefestigten Feldwegs neben dem Gottesacker. Hinweis eins ist die Farbe des Bodens der Straße: ein rostiges Orange wie die Graberde, also eisenhaltig. Hinweis zwei sind die Blumen selbst. Während er dem Pfad humpelnd folgt und das Klicken, das Einrasten in ihm weitergeht, ruft er ab, was ihm über Pflanzen im Gedächtnis geblieben ist.

      Die klumpigen, borstigen Wirtel der … Zitronengoldmelisse.

      Die buttergelben Blüten an den Stängeln von Carolina-Jasmin. Ja, das ist definitiv Carolina-Jasmin.

      Und schließlich Goldglöckchen. Wie traurig lässt es seine Köpfe hängen. Kein anderes Gewächs sieht so herrlich leutselig aus.

      Einen Moment lang denkt er an Salat aus wilden Blumen, Radicchio und geriebenen Möhren, den er widerwillig für eine Hochzeit gemacht hatte, nachdem er als Caterer engagiert worden war. Die Braut, eine Kanadierin, hatte eine Schwäche für Trends, und zu jener Zeit war dieses Rezept in, genauso der ach so verantwortungsvolle Kauf lokaler Erzeugnisse, also bestand sie darauf, nur Blumen aus der Gegend zu verwenden. Der Bräutigam, ein solider Typ, stammte aus Virginia, wo die Feier auch stattfand, und dort wachsen eben sowohl Zitronengoldmelisse als auch Carolina-Jasmin.

      Daraus ergibt sich, dass ich im Süden sein muss. Angesichts der vielen Nadelbäume auf der anderen Straßenseite kann es allerdings nicht zu weit unten sein, keineswegs Florida oder so. Vielmehr irgendwo auf der Kante West Virginia, Tennessee. Die rote Erde grenzt die Möglichkeiten auf nur diese beiden Staaten ein.

      »Erklärt auf jeden Fall, warum es so warm ist«, brummt er leise und wischt sich die Stirn ab. »Bitte lass es keinen der zwei Staaten sein, die ich vermute. Mehr verlange ich nicht.«

      Wieder überfliegt er die Grabinschriften und ordnet seine Eindrücke von früher neu, sodass sie sich allmählich ineinanderfügen, als würde er unter einem Sturzbach aus saurem Regen stehend ein Puzzle aus Rasierklingen und Angelhaken zusammensetzen. Ein klares Bild will sich einfach nicht ergeben. Dennoch tauscht er die Teile weiter aus, schneidet und ritzt oder sticht sich daran.

      Natürlich haben viele der Toten identische Namen. Das ist nicht ungewöhnlich, aber so viele, die ihm geläufig sind, an einem einzigen Ort wie diesem? Er grunzt und kehrt der stummen Steinansammlung auf dem Friedhof den Rücken zu. Vergiss es. Darum lässt er es auf sich beruhen und tritt unter dem ätzenden Wasserfall heraus, den er sich einbildet, woraufhin es ihm sofort besser geht. Sein altes Leben bedeutet nichts. Erinnerungen sind bloß Schmutzflecken.

      Als er das Tor erreicht und hinausgehen möchte, knarren die rostigen Angeln beim Öffnen. Sich am Straßenrand zu halten, ohne in den Graben zu kullern, der halbhoch mit stinkend kaffeebrauner Brühe vollgelaufen ist, wird zu einem Drahtseilakt. Einmal verliert er die Balance, verlagert sein Gewicht zu stark zur Fahrbahn hin und betritt sie. Hupen, ein erschrockenes Glucksen. Ist er das selbst gewesen?

      Ein Auto braust vorbei; weil es so knapp war und Lärm herausdrang, der wohl Musik sein sollte, bekommt er Herzklopfen. Er verzieht das Gesicht, während das Heck des Wagens in der aufgewirbelten Sandwolke verschwindet, windschnittig elegant und in geschmacklosem Grün lackiert, wie man es nur in tropischen Regenwäldern oder schlechten Drogentrips sieht. Er weiß weniger über Autos als die Flora, doch der Modellname steht rechts am Kofferraum: Accord. Mit zerzausten Haaren und feinem Schmutz an den Wimpern, gegen den er anblinzelt, bleibt er stehen und schlägt nach dem heißen Staub, der ihn umweht. Dabei beobachtet er, wie das Fahrzeug auf der Straße davonrast und hinter einer Kurve außer Sicht gerät. Nur den Namen konnte er lesen; um das Nummernschild zu erkennen, war es zu schnell, aber der Hip-Hop wummert länger, als er den Wagen sieht. Ein »Yo, Motherfucker« schnappt er noch auf, wütend gebellt und dabei durchaus glaubwürdig, weshalb er, der früher wohl nicht über die stärkste Pumpe verfügte, kurzzeitig verärgert neben der Straße weitergeht.

       Hätte mich fast angefahren, der kleine Scheißer. Junge Leute … völlig rücksichtslos, nichts als laute Bässe und Vögeln in der Birne.

      Er lässt Dampf ab, indem er einen dicken Stein in den Graben tritt, wo er einen Schwarm Stechmücken aufscheucht und mit einem Plopp versinkt. Um Rache zu üben, stürzen sie sich auf ihn. Ein paar landen mit ausgefahrenen Rüsseln, schwirren aber wieder ab, ohne von seinem Blut probiert zu haben. Nein. Der schmeckt wohl nicht. Er lacht, während sie fortfliegen und sich eine normalere Mahlzeit suchen. »Jawohl, ich bin mir ziemlich sicher, dass ich nicht allzu gut schmecke.«

      Das Grinsen vergeht ihm schnell. Er regt sich immer noch darüber auf, beinahe wieder getötet worden zu sein. Eigentlich ist es aber irrelevant. Die Erwägung, sich Kennzeichen zu merken, sieht einem lebendigen Menschen ähnlich, aber niemandem unter der Fuchtel der Confab. Er darf mit niemandem sprechen, außer es lässt sich nicht umgehen, und kann sich irgendwie denken, dass es seine Vorgesetzten nicht unbedingt für notwendig halten, bei den örtlichen Behörden Anzeige gegen einen Raser zu erstatten. Den Beckett soll er hier machen, seine Aufgabe erledigen und die Hülle dort hinterlassen, wo er hineingeraten ist. Mehr nicht.

      Damit – also dem Vermeiden von Gesprächen – hatte er nie ein Problem, weil er sich generell nie als umgänglicher Mensch verstand. In seinem alten Leben war es genauso, bloß dass er einen freien Willen und einen Job hatte, der sich indes erheblich von seiner jetzigen Tätigkeit unterschied: Koch und angehender Küchenchef. Das schloss einige Erfahrung mit ein. Er blickt auf Anstellungen in siebzehn verschiedenen Restaurants zurück (einige gut, die meisten nicht), und zwar vor seiner Bewerbung auf der Meisterschule. In jenen engen, heißen Küchen war es, wo er eingezwängt zwischen wohlmeinenden Einwanderern und Studienabbrechern schuftete, unerhörte Schichten schob und dabei inständig hoffte, minderwertige (oder schlicht kaputte Utensilien) würden gnädigst ihren Dienst tun, sich in Anbetracht unzuverlässiger Gehaltszahlungen auf die Zunge biss und doch nie aus den Augen verlor, worauf es ankam: Er zog es durch, führte das Leben eines Kochs, und der Rattenschwanz, den dieser Wandel nach sich zog, stärkte sein Rückgrat, sodass er sich bei all dem Scheiß seine Würde bewahren konnte. Kommt mir nicht mit Zutaten, sondern lasst mich machen, worin ich am besten bin. Er liebte das.

      Freilich liegt es in der Vergangenheit, und dies ist die Gegenwart. Hier und jetzt soll er eine Art von Arbeit verrichten, in deren Rahmen es ihm selbst nach zahllosen Stunden Praxiserfahrung nicht gelingt, die ständigen Fettnäpfchen zu umgehen, obwohl es in der Theorie leicht klingt: Töte die Lusus naturae, oder krieg sie zumindest so weit unter Kontrolle, dass man sie festnehmen und dorthin abschieben kann, wo sie keinen Schaden anrichtet. Zu dem, was er früher gemacht hat, besteht ein himmelweiter Unterschied, klar, doch er erinnert sich oft an früher, als einmal falsch bestellt wurde und ein Hängebauchschwein aus dem Lieferwagen kam, aus eigenen Stücken wohlgemerkt, nicht zerstückelt, verdammt lebendig und schnaubend. Es kaltzumachen oblag dann ihm, weil man Koteletts als Tagesgericht anbot, der Chefkoch aber in Urlaub (auf Entzug) war und die Zeit fehlte, einen Schlachter oder auf Borstenvieh abonnierten Auftragskiller zu rufen. Müßig zu erwähnen, dass an dem Tag ausgiebig mit Messern hantiert wurde, und bei jedem Sprung, wenn unser Held heute den Beckett mimt, entsinnt er sich jener fürchterlichen Schicht mindestens einmal, weil die Arbeit für die Confab ihr stark ähnelt. Ganz richtig, du, dem jegliche Erfahrung im Töten abgeht – du sollst das für uns erledigen, und zwar dalli, Dummkopf.

      Zu einem Job genötigt zu werden, der ihm nicht liegt, macht ihn fast glauben, er sei mit jemand anderem verwechselt worden. Gab es dabei allerdings eine andere Wahl? Nicht dass er wüsste, und er hat nachgefragt, verlasst euch drauf.

      Ferner durfte er über jene Sau reden, die er durch die Küche gejagt hat. Sobald man aber unfreiwilligerweise von