»Daran hat keiner direkt schuld«, entgegnet Zilch und weiß zuerst gar nicht, was er damit meint: die stillschweigend geduldete Engstirnigkeit der Menschen oder ihre Neigung, angesichts von Ungeheuern auszuticken. Er denkt, beides lasse sich wahrscheinlich darauf beziehen, was er als Nächstes sagt. »So war's halt schon immer, und ändern wird sich nichts, bis sich jemand vornimmt, etwas daran zu ändern.«
»Das ist scheiße«, murrt Galavance. Sie hängt immer noch ihren Erinnerungen nach, wie es scheint, und ist möglicherweise beunruhigt, nun da sie weiß, dass Monster kein Unsinn sind. Zilch kann es nicht genau bestimmen, sondern nur nickend beipflichten. Jawohl, es ist scheiße. Richtig ätzend.
Sie haben Raleigh verlassen und fahren auf der US-1 durch Wake Forest. Galavance zündet sich eine Zigarette an und schüttelt den Kopf. Sie weiß nicht, mit welcher Frage sie anfangen soll. Eins nach dem anderen, denkt sie und streift Asche ab, ehe sie tief durchatmet. Sie bietet ihm wiederholt eine Kippe an, doch er lehnt jedes Mal ab, obwohl er gierig starrt, sobald sie an ihrer eigenen zieht.
»Aber warum diese Lusus-Wesen? Warum nicht … andere schlechte Menschen jagen? Wieso bleiben Serienmörder und Vergewaltiger frei, während ein harmloser Schneemensch sterben muss?«
Das kann Zilch nicht beantworten. Er zuckt bloß mit den Achseln und verspricht, nicht zu vergessen, bei der nächsten Gelegenheit diesbezüglich nachzuhaken.
»Wie funktioniert dieser Beckett-Prozess?«, möchte Galavance daraufhin wissen. Sie beißt sich auf die Zunge, denn ihr würden ohne Weiteres gleich fünfzig, ja hundert weitere Fragen einfallen.
»Die plausibelste Erklärung, die ich kenne, lautet folgendermaßen: Die Confab sucht einen Körper, der nicht einmal mehr viel Fleisch auf den Knochen haben muss, sondern einfach etwas, wo die Nanobugs eindringen können, nachdem sie sich ins Grab gebuddelt haben. Sie bauen ihn wieder auf, was manchmal mehrere Versuche nach sich zieht. Hier, siehst du?«
Zilch knöpft seinen Hemdkragen auf und zeigt Galavance einen stumpfen Metallstab, der direkt über dem Herz aus seiner Brust ragt. Er hat den Durchmesser eines Kugelschreibers und sieht aus wie ein Knopf an einer Maschine. Sie schaut kurz hin und dann wieder auf die Straße, ein bisschen später, als sie es hätte tun sollen. Der Anblick verstört sie zutiefst. Ihre Pobacken schlafen ein, was ihr immer passiert, wenn sie etwas Verstörendes erlebt. Das geschah ihr zum ersten Mal, als sie aus Versehen im Zimmer geblieben ist, während ihre Großtante einen Katheter eingesetzt bekam.
»Du siehst also jedes Mal anders aus?«
»Ja, ich bin eben ich. Bei dem Körper, den ich vorübergehend benutze, handelt es sich nur um ein Gerüst, den Rohbau.« Er lächelt, bevor er das Wort findet, das seines Erachtens am besten passt: »Es sind die Zutaten, und danach wird meine ach so bunte Persönlichkeit eingefügt, ungefähr wie ein E-Mail-Anhang, und siehe da: Zilch tafelfertig, nur noch Wasser rein und umrühren.«
»Und ich habe gedacht, es sei wunders wie zauberhaft. Ich dachte an Voodoopriesterinnen mit Frisuren, die Bühnenhäschen aus Las Vegas neidisch machen würden, zeremonielle Pfeifen und Trommeln, Kugelfischleber, ›Kessel brodelt, Feuer zischt‹, das alles.«
»Je tiefer man in die Materie eindringt, desto mehr verschwimmen die Grenzen zwischen Wissenschaft und Religion. Das Böse und der Teufel, Satan, Luzifer oder wie man ihn sonst nennen mag – das alles sind bloß Begriffe, die man sich ausgedacht hat, um das Unbekannte zu benennen. Wenn du zudem länger überlegst, so wie ich es getan habe, fallen dir andere Bereiche im Leben ein, die uns ziemlich stark beeinflussen und auf den ersten Blick simpel wirken. Sex und menschliche Anziehung lassen sich über die Chemie beziehungsweise Pheromone und Körpersprache erklären. Das Leben auf diesem Planeten entstand nicht durch einen Schöpfungsakt, sondern dank geeigneter Bedingungen: Seiner idealen Entfernung von der Sonne, sodass Wasser nicht zu schnell verdampft und für die Entwicklung günstige Temperaturen vorherrschen, die gleichen eigentlich wie für die Entstehung von Schimmel. Die Erde ist wie eine große Terrakotta-Kugel für Chia-Samen. Genauso könnte man die grundlegende Vorstellung von Zauberei dem Kochen gegenüberstellen. Sie sind ein und dasselbe. Mystizismus und Forschung liegen auf einer Wellenlänge, wenn man weit genug zurück in die Vergangenheit geht.«
»Warte kurz«, lenkt Galavance hörbar skeptisch ein. »Du kommst vom Hundertsten ins Tausendste und vergleichst die Erde mit etwas, das ich zum Geburtstag meiner Großmutter im Supermarkt kaufen könnte. Dann redest du vom Teufel, also musst du auch an den Himmel denken.«
»Bist du ein ausgesprochen frommer Mensch? Was dieses Thema angeht, muss ich immer vorsichtig sein, wenn ich in den Bible Belt springe.«
Und passend zu dieser Frage fahren sie in diesem Augenblick an einer umgebauten Tankstelle vorbei, die jetzt als Kirche einer kleinen Gemeinde dient. In einem Fenster flackert ein Leuchtschild mit Wackelkontakt, auf dem steht: »Jetzt beten, später spielen. Vergnügen kann warten, die Seele nicht.« Jemand hat eine Jesusfigur aus Keramik an das T von Texaco geschraubt. Unter einer Markise vorm Eingang sitzt an einen Pfosten gekettet ein abgemagerter Collie, der aussieht wie ein Stofftier, und beobachtet den passierenden Wagen mit heraushängender Zunge. Neben ihm steht ein leerer Eiscreme-Eimer – eine Gallone – als Trinknapf, der jedoch kein Wasser mehr enthält. An der Innenwand hat der Höchststand einen kalkweißen Kranz zurückgelassen.
»Eigentlich nicht«, antwortet Galavance. »Sicher, meine Alten haben mich jeden Sonntag in den Gottesdienst geschleift und dergleichen, Mom gelegentlich auch mittwochs zur Andacht, aber ich schätze, dass ich dem nie eine besonders große Bedeutung zugemessen habe. Ist es schlimm, so etwas zuzugeben? Ich hatte aber auch nie einen triftigen Grund, wegen irgendetwas inständig zu beten.«
»Glückspilz«, bemerkt Zilch.
»Und du?«, fragt Galavance.
Er weiß nicht, was sie meint, und neigt seinen Kopf ein wenig zur Seite.
»Du sagtest gerade ›Glückspilz‹, als ob du selbst eine üble Zeit durchgemacht hättest oder so«, führt sie weiter aus.
»Nö«, erwidert Zilch. Er saugt seine Wangen ein, sodass sie die Muskeln unterm Fleisch zucken sieht. Damit haben sich schon andere Männer bei ihr verraten, denn es ist typisch für eine schlecht verheimlichte Lüge. »Ist nicht so, dass ich jemals schlimme Verluste oder etwas Ähnliches erlebt habe. Es war einfach … allgemein dahingesagt, glaube ich.«
»Gut, dann weiter.«
»Weiter womit?«
»Sag mir, ob Gott existiert oder nicht.« Sie packt das Lenkrad wieder auf zehn und zwölf Uhr, während sie sich auf etwas gefasst macht: die Antwort auf die große Frage. Zilch bleibt sie ihr schuldig, also dreht sie ihm den Kopf zu, als die Straße ein Stück weit gerade verläuft. Während er ihren Blick erwidert, gehen seine mattgrauen Augen in ihren Höhlen hin und her wie die Walze einer elektrischen Schreibmaschine. Schließlich halten sie still, und er zieht die Schultern hoch, womit er alles verwirft, was offensichtlich jeden Moment auf einen Schlag durch seinen Mund gesprudelt wäre, das ganze schreckliche Geheimwissen. Er lehnt sich im Beifahrersitz zurück und beobachtet, wie sattgrüne Felder an seinem Türfenster vorbeiziehen.
»Ich hab schon genug gesagt. Außerdem bist du noch jung, und es wäre bedauerlich, wenn du den Rest deines Lebens in völliger Gewissheit verbringen müsstest.«
»Dass du das jetzt gesagt hast, reicht schon«, erwidert Galavance. »Es ist, als würde man fragen, ob jemand noch Jungfrau sei, und von ihm die Antwort bekommen, er äußere sich lieber nicht dazu. Man kann sich die Wahrheit denken, auch wenn es wohl von der betreffenden Person abhängt.«
»Besser gesagt, von ihrem Geschlecht«, berichtigt Zilch und lacht kurz auf. »Kerle behaupten gern, sie hätten ihre Unschuld verloren, gleich nachdem sie aus dem Ei geschlüpft sind, wohingegen die Mädels vorgeben, bis ins Altenheim an ihrer festzuhalten, wo sie dann im Rollstuhl vor einem Erkerfenster mit Blick auf Vogelhäuschen abgestellt werden.«
»Was nun?«