»Ich hatte das Gefühl, die Kollegen hatten Spaß«, antwortete Ben zaghaft, und hoffte, damit das drohende Konfliktgespräch abwenden zu können. Als Urs Schneider keine Anstalten machte darauf einzugehen und stattdessen unverwandt eine Stehlampe anstarrte, entschloss sich Ben dazu, die Stille zu brechen und die Flucht nach vorn anzutreten: »Äh, Entschuldigung. Was sagten Sie? Ihre Frau betrügt Sie?« Nach einer Pause hörte er sich ungeschickt sagen: »Soll ich einen Ihrer Kollegen holen? Ich müsste dann auch gleich los …«
»Was?«, sagte Urs Schneider und schien erst da aus seiner Lethargie zu erwachen. »Nein, nein. Ein Kollege hilft da nicht.« Er sah Ben durchdringend an, und dieser bekam das Gefühl, die Blicke würden direkt in seinen Körper stechen. »Ich brauche Klarheit! Ich könnte damit umgehen, wenn es so wäre, aber mit dieser Ungewissheit kann ich nicht leben!«
»Ja, haben Sie sie denn mal drauf angesprochen?«, versuchte Ben es mit einem proaktiven Vorschlag.
»Natürlich! Mehrfach! Sie streitet alles ab.« Wieder strich er durch sein wirres Haar. »Können Sie sie nicht beschatten und mir Beweise liefern?«, sagte er mit einem flehenden Lächeln und sah für Bens Geschmack eine Spur verrückt dabei aus.
»Ich?«, fragte Ben. »Wie stellen Sie sich das vor?«
»Na, Sie haben doch oft Zeit«, begann er mit einer unbewiesenen Behauptung. »Claudia verlässt das Haus fast jeden Tag um zwölf. Ich habe sie beobachtet, aber ich kann ihr nicht hinterherfahren. Früher oder später würde sie das garantiert merken.« Er seufzte angestrengt und legte Ben beide Hände auf die Schultern. Dann versuchte sein Gesicht, ein Lächeln zu imitieren, das aber eher zur Maske eines hungrigen Horrorclowns passte. »Und ich bezahle Sie selbstredend.« Er musterte Ben von oben bis unten, bevor er weiterredete: »Sie fallen doch überhaupt nicht auf. Schauen Sie sich doch mal an. Sie sind ein richtiger Allerweltstyp.« Ben war zu überrumpelt, als dass er diese Aussage als unverschämt hätte deuten können. »Gegen einen kleinen Spezialauftrag haben Sie doch nichts, oder?«
Ja, dachte Ben jetzt, das war ein Spezialauftrag gewesen. Laut hörbar atmete er aus, schob seinen Bürostuhl ein Stück nach hinten und lehnte sich weit zurück, die Handflächen in den Nacken gelegt. Er hatte den Fall damals angenommen. Und tatsächlich, er hatte ihn aufgeklärt. Besonders schwierig war das nicht gewesen, denn besagte Dame fuhr am ersten Abend der Observation auf direktem Wege in ein abgelegenes Restaurant in Hombruch und setzte sich in eine schummrige Nische an einen Tisch für zwei. Nach fünf Minuten war ein blonder Hüne in Lederjacke hinzugekommen und die beiden hatten ohne nennenswertes Begrüßungsritual heftig zu knutschen begonnen. Bis der Kellner irgendwann leise hüstelnd an den Tisch getreten und die Speisekarten ausgeteilt hatte. Ben hatten seinem Auftraggeber die Beweise in Form von achtundzwanzig hochauflösenden Digitalbildern geliefert. Zwei davon brauchbar, die restlichen verwackelt. Allerdings fand die Übergabe erst am dritten bezahlten Arbeitstag statt, denn Ben fand, dass sich so ein Spezialauftrag auch ein bisschen lohnen musste. Der Betrogene hatte sich tausendfach bei Ben bedankt und war in Tränen ausgebrochen.
»Hallo?«, sagte Pedro Möller. »Sind Sie noch da?«
»Äh, was?« Ben erschrak fast. So waren seine Gedanken abgeschweift. Er blinzelte ein paar Mal und sagte: »Nein … Ich meine ja. Ich bin noch da. Hatte nur kurz nachgedacht.« Er tippte sich mehrfach mit Zeige- und Mittelfinger an die Stirn.
»Worum ging’s denn jetzt bei dem Urs? War es Wirtschaftsspionage?«, wollte Pedro Möller wissen.
»Tut mir leid, dazu kann ich leider nichts sagen. Schweigepflicht.« Doch um seinen Gesprächspartner nicht ganz von seinem Ursprungsgedanken abzubringen, fügte er geheimnisvoll hinzu: »So was in der Art.«
»Na, ist nicht so wichtig. Ich habe jedenfalls Probleme mit meiner eigenen Firma, und deshalb bin ich hier.« Sein Blick schweifte durch den Raum und blieb kurz auf den Fläschchen mit den Tröpfchen und Globuli hängen, bevor er wieder zu Ben aufsah.
»Was für ein Problem haben Sie?«, fragte Ben, der spürte, wie ihm schwindelig wurde, und der sich nichts sehnlicher wünschte als vier weitere Tröpfchen seiner Bachblütenmischung.
»Es ist so«, begann Pedro Möller, als er von einem sechsfachen Sturmklingeln an der Tür unterbrochen wurde.
»Entschuldigen Sie mich.« Ben passte die Unterbrechung gar nicht, und er hatte keinen Schimmer, wer da so dringend etwas von ihm wollte. Hoffentlich nicht Frau Heimel, dachte er mit einem Anflug von Panik, schritt mit größtmöglicher Dynamik an Pedro Möller vorbei durch den Flur und öffnete die Tür.
»Kai? Was machst du denn hier?« Ben schaute seinen alten Schulfreund Kai Siebert irritiert an. Dann drehte er sich kurz in Richtung seines Büro/Probenraums und bemerkte, dass er die Tür offengelassen hatte und Pedro Möller die beiden mit Interesse beobachtete. »Warte.« Er schritt zurück durch den Flur und sagte lächelnd an Pedro Möller gewandt: »Mein Assistent. Etwas früher von einem Außeneinsatz zurück. Ich bin sofort wieder bei Ihnen.« Dann schloss er die Tür und war allein mit Kai.
»Wie jetzt, Assistent?«, fragte Kai.
»Erkläre ich dir später. Was machst du hier? Und wie siehst du überhaupt aus?« Ben musterte Kai von oben bis unten. Der ansonsten sportliche, gepflegte und dynamisch wirkende, junge Mann sah aus wie durch eine Mühle gedreht. Wirre Haare, müde Augen, ungebügeltes Commodore64-T-Shirt, Jeans mit mindestens drei verschiedenen Fleckenarten.
»Kann ich bei dir pennen? Steffi hat mich rausgeschmissen.«
»Was? Oh Mann. Na klar, warte.« Ben holte den Schlüsselbund aus der vorderen Tasche seiner Jeans und machte sich umständlich daran, den Schlüssel für seine Wohnung, die einen Stock höher lag, vom Schlüsselring zu trennen. »Warte oben auf mich. Ich habe nur noch diesen einen Klienten, dann komme ich.« Er übergab den Schlüssel und Kai sagte: »Klient? Bist du jetzt Anwalt oder was?«
»Erkläre ich dir später«, antwortete Ben mit einem Lächeln, das gleichzeitig Hoffnung, Irritation und Überforderung ausdrückte, und schloss die Tür.
»Wo waren wir stehen geblieben?« Ben nahm erneut Platz und bemühte sich, professionell, investigativ und engagiert zu wirken. Bei aller Nervosität und Aufregung schmeichelte es ihm, dass Pedro Möller ihn für einen echten Detektiv hielt.
»Das Zack-Varieté in der Innenstadt kennen Sie ja?« Pedro Möller formulierte den Satz als Frage.
»Selbstverständlich kenne ich das!« Ben war zehn, fünfzehn Jahre zuvor oft dort gewesen, um sich Zaubererkollegen anzusehen, die bereits das geschafft hatten, was er anstrebte. Als irgendwann abzusehen gewesen war, dass er diese Höhen mit seiner Kunst eher nicht erklimmen würde, waren die Besuche weniger geworden, bis sie schließlich ganz eingeschlafen waren. Heute kannte er das Varieté hauptsächlich wegen seines Parkplatzes, auf dem er unberechtigterweise, dafür kostenlos, parkte, wenn er etwas in der Innenstadt zu erledigen hatte.
»Gut! Wir sind das einzige noch inhabergeführte Varieté in einem Umkreis von knapp 150 Kilometern, und das, obwohl wir hier mitten im Ruhrgebiet sitzen. Seit einigen Wochen haben wir immer wieder mit Sabotageakten zu kämpfen, die uns das Leben schwer machen. Vor einer Woche musste die Show komplett ausfallen. Jemand hat die Toilettenanlage derart unter Wasser gesetzt, dass nichts mehr ging. Eine Sauerei war das! Sicher haben Sie davon in der Zeitung gelesen?«
»Natürlich!« Ben hatte außer den geklauten Sonntagsblättern seit Ewigkeiten keine Zeitung mehr in der Hand gehabt, aber sollte mehr Fachwissen aus dem Tagesblättchen von ihm verlangt werden, konnte er ja behaupten, die Details nicht mehr präsent zu haben.
»Ich hab natürlich versucht, das so wenig hochkochen zu lassen wie möglich. In der Zeitung stand nur, dass wegen eines technischen Defektes die Show ausfallen musste.« Pedro Möller wirkte aufgebracht und kratze fortwährend mit dem Daumen seine Nase. »Schaden von knapp 15.000 Euro. Der Teppich in der Eingangshalle musste komplett erneuert werden. Und die Versicherung stellt sich quer, weil klar ist, dass da einer was manipuliert hat.«
»Haben