DIE GRENZE. Robert Mccammon. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Robert Mccammon
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958353060
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zu ihrem fünfzigsten Geburtstag als Scherz geschenkt hatte: einen Magic Eight Ball mit der schwarzen Tinte im Inneren und dem schwimmenden Ikosaeder. Sie hatte ihn vor sich auf den Tisch gestellt, nur um eines kleines Stück der Vergangenheit bei sich zu haben. Ein Stück Vergangenheit, das bis jetzt viel Schrecken und Verzweiflung überlebt hatte. Ein Stück von Vincent und ihrem gemeinsamen Leben, das jetzt wie eine magische Fantasie erschien, eine Zeit voller Freude, an die sie sich nur schwer erinnern konnte. Doch der Magic Eight Ball brachte etwas davon zurück. Ein wenig. La parte más pequeña. Sie traf keine Entscheidungen mithilfe des Spielzeugs, aber manchmal … manchmal war sie versucht, es zu tun, weil es Vincent sein konnte, der versuchte, mit ihr zu sprechen, sie zu führen und zu trösten, durch die schwarze Tinte des Unbekannten.

      »Ich mochte Jane sehr«, hörte sie sich sagen. Es klang hohl. »Eine sehr nette Frau. Ja, wir sollten Mitchs Leiche fortschaffen. Kümmerst du dich darum?« Die Frage ging an Dave McKane, der ausgestreckt auf dem verschlissenen braunen Sofa lag und die rissige Decke anstarrte. Die Serie bizarrer Beben hatte die alten Gebäude in ihren Grundfesten erschüttert. Ein Teil der Treppe war abgebrochen, die östliche Mauer war weitestgehend eingefallen, fast jedes Fenster war zerbrochen und wurde nur noch durch Klebeband zusammengehalten, außerdem waren einige Dächer eingestürzt. Dave hatte schon Dutzende von Rissen in den Wänden seiner eigenen Wohnung gesehen. Er ging davon aus, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis das ganze verdammte Gebäude in sich zusammenbrach. Der Boden seines Schlafzimmers hing jetzt so schief, dass es sich anfühlte, als liefe man über das Deck eines Schiffes auf hoher See, das in einem gefährlichen Winkel von einer Monsterwelle getroffen worden war.

      »Ich kümmere mich darum«, sagte er teilnahmslos.

      JayDee hatte Flecken und Streifen von fremdem Blut auf seinem Hemd und seiner Khakihose. Die Krankenstation – die aus zwei Wohnungen bestand, zwischen denen sie die Wand herausgerissen hatten – befand sich im unteren Teil des Gebäudes und war von zwei Krankenschwestern besetzt, von denen eine für einen Tierarzt in Fort Collins gearbeitet hatte und die andere Zahnarzthelferin gewesen war, damals, vor etwa dreißig Jahren, als junge Frau in Boise, Idaho. Die medizinischen Ressourcen bestanden aus Pflastern in verschiedenen Größen, Packungen mit Aspirin und Beruhigungsmitteln, Antiseptika, etwas Material zur Herstellung von Gipsverbänden, ein paar Holzschienen, wenigen chirurgischen Instrumenten wie Sonden und Zangen und einer Handvoll zahnmedizinischer Werkzeuge. Dazu einige Dosen mit Schmerzmitteln wie Demerol und Vicodin.

      »Wir müssen wieder unsere Munition zählen«, sagte Olivia. Sie musste sich bemühen, ihre Stimme stark und beständig klingen zu lassen. Neben Dave und JayDee befanden sich drei weitere Personen im Raum, die alle ein gewisses Maß an Verantwortung für die Vorratshaltung und die Munitionsreserven hatten. »Findet heraus, was jeder übrig hat.«

      »Ich habe noch fünf Magazine«, antwortete Dave. »Jedes mit zweiunddreißig Patronen. Danach war es das.« Er setzte sich auf das Sofa und nahm seine Baseballmütze ab. Sein Gesicht war von tiefen Furchen gezeichnet und seine Augen sahen benommen aus. »Noch so einen Schlag wie heute Nacht verkraften wir nicht. Es sind jetzt zu viele. Wenn es dieses Beben nicht gegeben hätte … wären sie hereingekommen. Wir hätten keine Chance gehabt, sie wieder zurückzutreiben.«

      »Das Beben«, sagte Carmen Niega, eine dünne Hispanierin, die in Denver Steueranwältin gewesen war. Sie lebte seit etwas weniger als vier Monaten in Panther Ridge und war damals mit einem halben Dutzend anderer Wanderer angekommen. »Ist so etwas schon einmal passiert?«

      »Noch nie«, sagte Olivia. Sie sah zur Tür, die offen stand, weil es jetzt unmöglich war, sie im schiefen Türrahmen zu schließen. Ethan Gaines stand auf der Schwelle und spähte hinein. Hinter ihm begann das erste unangenehm feuchte gelbe Morgenlicht durch die dicke Wolkensuppe zu sickern. »Alles in Ordnung?«, fragte sie ihn.

      Er nickte. Sein Gesicht war fahl und seine Haare und Kleider weiß vor Steinstaub.

      »Ich habe dir gesagt, dass du von der Mauer verschwinden sollst«, sagte sie. Sie sah den Doktor an. »John, ich denke, er steht unter Schock. Würdest du …«

      »Nein, mir geht es gut«, erwiderte Ethan, bevor JayDee sprechen konnte. Er betrat den Raum, wobei er ein wenig ins Stolpern geriet, weil er erkannte, dass er wahrscheinlich tatsächlich unter Schock stand. »Ich wollte es Ihnen sagen. Ihnen allen.« Er hielt inne und versuchte herauszufinden, was genau er sagen wollte.

      »Was sagen?«, stieß Dave hervor. Die Härte in seiner Stimme war zurück, denn er war todmüde und stand vor der Aufgabe, ein paar Menschen zu begraben, einschließlich des kopflosen Körpers eines ziemlich netten Kerls, der ein paar gute Witze gekannt und mit ihm und einigen anderen Poker gespielt hatte.

      Ethan sagte: »Ich denke … ich habe das Erdbeben verursacht.« Er runzelte die Stirn. »Ich weiß, dass ich es verursacht habe.«

      Einen Moment waren alle still. Dann sagte JayDee leise: »Ethan, lass uns auf die Krankenstation gehen, da kannst du dich hinlegen und ausruhen, und ich kann dir etwas Wasser geben und etwas gegen die Schmerzen …«

      »Ich sagte … ich habe das Beben gemacht«, wiederholte Ethan.

      »Na klar hast du das getan.« Dave setzte seine Baseballmütze wieder auf und fuhr sich mit der Hand über das bärtige Kinn. »Oh ja, du hast da tolle Arbeit geleistet. Hast die Grauen vertrieben, prima. Du hast zwar auch unsere Anlage hier so gut wie zerstört, aber hey … es macht mir nichts aus, in einem Zimmer zu schlafen, dessen Wände jeden Moment zusammenbrechen können. Wenn nicht zuerst die Decke herunterkommt. Was stimmt nicht mit dir, Junge? Hast du zusammen mit deinem Gedächtnis den Verstand verloren?«

      »Hör auf damit, Dave«, warnte Olivia. Sie stand auf. »Ethan, ich möchte, dass du mit dem Doktor gehst. Würdest du bitte …«

      »Nein, ich werde nicht gehen.« Ethan lief so zielstrebig in die Mitte des Raumes, so entschlossen, dass Carmen Niega, Russ Whitcomb und Joel Shuster zurücktraten, um ihm Platz zu machen. Er ging an JayDee vorbei und stellte sich vor Olivias Schreibtisch. Im Lampenlicht waren seine Augen hellblau und schienen Olivia beinahe furchterregend in ihrer wilden Intensität. »Ich sage die Wahrheit. Ich wusste auf einmal, dass ich die Steine in der Mauer berühren muss, und … ich weiß es nicht genau … aber ich habe in meinem Kopf gesehen, was passieren würde. Es war, als würde ich einen Befehl erteilen, und die Erde hat getan, was ich wollte. Was ich gesehen habe. Nur … es war stärker, als ich gedacht hatte. Ergibt das irgendeinen Sinn?«

      »Nein, Ethan … das tut es nicht. Es ist einfach passiert, das ist alles. Warum es in diesem Moment passiert ist, weiß ich nicht. Wir hatten großes Glück. Aber du hast unmöglich das Erdbeben verursacht. Ich möchte jetzt wirklich, dass du auf die Krankenstation gehst. Ich möchte, dass du zur Ruhe kommst und dich dort soweit wie möglich erholst.«

      JayDee stöhnte. Es würde nicht leicht sein, sich dort unten auszuruhen, bei all den Verletzten, die jetzt dort waren und um die er sich kümmern musste. Trotzdem konnte er dem Jungen einen Schluck des kostbaren Wassers und zwei Schlaftabletten geben. Das würde ihm etwa zwölf Stunden Ruhe verschaffen.

      »Hey, alle mal herhören!« Kitt Falkenberg stand in der Tür. Sie war ungefähr dreißig Jahre alt, hatte aschblondes Haar und war groß und schlank. Sie war ein Star gewesen als Angreiferin in der Volleyballmannschaft der University of Colorado. Ihre atemlose Stimme klang angespannt und aufgeregt. »Ich habe es von Tommy Cordell gehört und dann habe ich es selbst gesehen! Der Swimmingpool! Das Beben hat ihn am Boden der Länge nach aufgebrochen. Nur … das Becken füllt sich!«

      »Was?« Dave rappelte sich auf.

      »Der Pool«, wiederholte Kitt, und ihre grünen Augen leuchteten in ihrem schmutzverkrusteten Gesicht. »Wasser flutet in das Becken … es sprudelt durch den Riss nach oben! Kommt schon, das müsst ihr sehen!«

      Sie brauchten ein paar Minuten, um aus dem Haus herauszukommen und den Hügel hinunterzulaufen. Olivia war die Erste. JayDee ging neben Ethan am Ende der Gruppe. Etwa vierzig Menschen hatten sich schon um den Pool versammelt. Im gelben Licht der Morgendämmerung drängte sich Olivia durch die Menge. Dave war direkt hinter ihr. Sie sahen, was Kitt gesagt hatte: