Ethan erkannte, was geschah.
Es waren zu viele. Heute Nacht würden die Grauen diese letzte Schlacht um Panther Ridge für sich entscheiden. Die Maschinengewehre auf den Wachtürmen feuerten noch, ebenso die Gewehre und die Pistolen entlang der Mauer, aber Ethan war klar, dass die Munition bald ausgehen würde und die Feuerwaffen dann nur noch Knüppel waren. Er sah Dutzende Gestalten, die die Mauer heraufkletterten, und noch zahllose mehr, die nachrückten – geradezu eine bösartige Armee von ihnen – sodass er wieder den Eindruck hatte, die Erde selbst wäre in heftiger Bewegung.
Sie mussten von der Mauer geworfen werden, dachte er. Sie mussten vom Hang geschüttelt werden, verschlungen von der Erde selbst. Aber welche Macht war dazu in der Lage?
Plötzlich wusste er, was er tun musste, inmitten der Schüsse und des Kreischens und der Schreie, als eine der Frauen in seiner Nähe angegriffen wurde. Er musste seine Hände auf die Steine der Mauer vor ihm legen, als wollte er die Erde jenseits der Mauer berühren. Als wollte er die Erde dahinter verformen oder neu modellieren. Als wollte er über die Erde gebieten und ihr Befehle erteilen, indem er in seinem Geist die Vision dessen zeichnete, was geschehen sollte.
Die innere Stimme, die ihm dies sagte, war deutlich und klar. Es war das, was er tun musste, es war das Richtige, genauso wie es das Richtige gewesen war, in den Swimmingpool hinunterzusteigen. Berühre einfach die Steine, sagte diese Stimme, die eine stärkere und sicherere Version seiner eigenen Stimme war. Berühre einfach die Steine und forme in deinem Geist die Kraft …
… eines Erdbebens.
Ich bin doch nur ein Junge!, dachte er. Ich kann nicht! Ich kann das nicht tun!
Aber noch während er das dachte, wusste Ethan, dass die Grauen über die Mauer kamen, noch mehr folgten, die Munition ausging und die Zeit knapp war, denn in nicht allzu langer Zeit würden sie alle tot sein.
Ein Erdbeben, dachte er.
Du kannst es, sagte die Stimme. Seine eigene Stimme, aber sie klang anderes. Vielleicht wie eine ältere Stimme. Eine, die von Dingen wusste, die er nicht kannte oder vor denen er sich fürchtete. Er verspürte Angst, die ihn fast komplett lähmte; paralysierte, sodass er nur noch auf das Ende wartete.
Du kannst es, sagte die Stimme. Gehorche. Und versuche es.
Tu es jetzt, bevor die Zeit um ist.
Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte, aber er erkannte, dass etwas von ihm erwartet wurde. Und ja, es schien verrückt zu sein, aber er musste es versuchen.
Er legte seine Handflächen auf die Steine.
Er sah auf die brodelnde Masse.
Er holte tief Luft in seine noch immer schmerzende Lunge, und als er ausatmete, sah er lebhaft in seinem Kopf, wie sich der Hang in Wellen wie die Haut einer Schlange bewegte. Er konzentrierte sich fest darauf, und eine Sekunde verging, dann noch eine und noch eine, aber nichts geschah. Außer dass immer mehr Waffen mit leeren Magazinen klickten, die Grauen kreischend heraufstürmten und die Geräusche von Äxten zu hören waren, die auf deformiertes Fleisch trafen … sonst nichts … überhaupt nichts.
Und als er die Hände von den Steinen nehmen und sich auf seinen eigenen Tod vorbereiten wollte, fühlte er plötzlich eine verblüffende Hitze aus seinem tiefsten Inneren aufsteigen, die ihn von innen zu versengen schien, oder vielleicht war es eine Ladung Elektrizität, die seine Ohren verbrannte und in seinen Haaren knisterte, oder vielleicht war es keines von diesen Dingen, sondern ein Gefühl der festen Überzeugung, dass er das hier tun konnte, was auch immer es war, wenn er sich selbst und die anderen retten wollte. Inmitten dieses Tumults und der Gewalt spürte Ethan, wie ein Teil von ihm – ein geheimnisvoller Teil, den er nicht verstand – gewaltige Kräfte sammelte.
Er fühlte, wie die Kraft seinen Körper wie ein Wirbelwind verließ und seinen Willen auf die Erde übertrug.
Die Erde stöhnte wie ein alter Mann, der aus einem langen und unruhigen Schlaf erwachte. Und dann streckte sich der alte Mann und warf sich auf die andere Seite, und in diesem Augenblick verschob sich der ganze Hügel.
Es war keine sanfte Bewegung. Risse schossen über die Straße und hinter Ethan zersplitterte das Glas in den Fenstern der Wohnungen. Die Gebäude von Panther Ridge erzeugten Geräusche von zersplitterndem Holz und von aus ihren Verankerungen reißenden Balkonen. Aber die Mauern schüttelten einige der nach oben kletternden Kreaturen ab und bliesen Staub und Bruchstücke in die deformierten Gesichter derer, die unten lauerten. Viele der Verteidiger wurden umgeworfen, einige fielen vom Hochweg, und auch Ethan ging auf die Knie, kämpfte sich aber wieder hoch und hielt seine Hände fest gegen die Steine gepresst. Er hatte das Gefühl, selbst Teil der Erde zu sein, ihre Bewegungen durch das Felsgestein lenken zu können. Sein Herz pochte wie verrückt und seine Unterlippe war blutig gebissen.
Einer der Wachtürme stürzte um, doch dem Maschinengewehrschützen gelang es, in Sicherheit zu springen. Der Hügel bebte wieder, diesmal noch heftiger, und mehr Graue verloren ihren Halt an der Mauer. Sie fielen herab und verhedderten sich ineinander.
Das dritte Beben war das heftigste.
Dutzende Steine in der Mauer zerbrachen mit den Geräuschen kleiner Explosionen. Mehr Glas barst aus den Fenstern der Wohnungen. Der ganze Komplex von Panther Ridge bewegte sich unter dem Krachen von zersplitterndem, uralten Berggestein. Spalten im Erdboden brachen auf und schlängelten sich den Hang hinunter. Einige der Grauen stolperten in sie hinein, als sich die Risse auf zwei oder drei Fuß verbreiterten. Viele waren noch darin gefangen, als die Risse sich wieder schlossen. Das Gestein zerquetschte das missgestaltete Fleisch und zermalmte die außerirdischen Knochen. Krallenhände erhoben sich aus ihren frischen Gräbern und griffen in die Luft, bis sie still waren.
Dieser Angriff des Erdbodens, der sich mit kleineren Beben fortsetzte, reichte aus, um zu zeigen, dass die Grauen zum größten Teil ihre Überlebensinstinkte behalten hatten. Sie drehten sich um und flohen den Hang hinunter. Viele schleppten Leichen und Leichenteile hinter sich her, um sie später zu verspeisen. Kreischend waren sie gekommen, aber sie flüchteten lautlos, als schämten sie sich. Manche blickten über ihre stacheligen Schultern zurück und die Botschaft ihrer Blicke erinnerte an die Graffiti im Inneren von Panther Ridge: Morgen ist eine neue Nacht.
Dann waren sie nur noch eine Masse missgestalteter Kreaturen. Kreaturen, die am Fuße des Hügels durch die Nacht rannten und humpelten und schlurften, und von einem Moment zum anderen waren sie außer Sichtweite.
Das Beben hatte aufgehört.
Ethan nahm seine Hände von den Steinen. Seine Aufgabe – so unglaublich sie auch gewesen war – war erledigt. Seine Handflächen und seine Finger fühlten sich brennend heiß an. Kalter Schweiß lief an ihm herab und er atmete schwer. Er war zu Tode erschrocken, benommen und desorientiert. Er spürte, wie sich die gewaltige Kraft in ihr Versteck tief in seinem Inneren zurückzog und verstummte.
Und was auch immer er in den letzten Augenblicken gewesen war, jetzt war er wieder der Junge, der einen sehr guten Gläsernen Mann bauen wollte.
Kapitel 5
»Sieben Tote, zwölf Verwundete«, sagte John Douglas im gelben Licht der Lampen. »Ich habe sechs mit gebrochenen Knochen. Jane Petersen wird ihre Wunden nicht überleben. Und ich denke, wir sollten Mitch Vanderveres Leiche so schnell wie möglich wegschaffen, oder?«
»Ja«, sagte Olivia. Ihre Augen waren müde und von dunklen Ringen umgeben. Sie saß am Schreibtisch in ihrer Wohnung und hatte einige der verdammten gelben Notizblöcke