Jessicas Vorgesetzte verlangten, dass sie sich auf Matisaks Spiel einließ, der sich mit niemand anderes als ihr unterhalten wollte, der Agentin, die ihn hinter Gitter gebracht hatte. Sie hatten das als Chance gesehen, mehr Informationen aus Matisak herauszuholen. Vor allem wollten sie erfahren, wo die vielen Leichen waren, die man bisher nicht gefunden hatte, die also immer noch in flachen Gräbern über den Mittleren Westen verteilt vor sich hinrotteten.
Matisaks begieriges Interesse an Sims bedeutete, dass sie dem durchgedrehten Killer auf seinem Egotrip schmeicheln musste, aber bei ihrem letzten Besuch wollte Teach Matisak keinen weiteren »Müll« über Sims hören; jetzt wollte er Informationen über den aktuellen »Klauen«-Fall, genau den Fall, der ihr zugeteilt worden war. Irgendwie schien er zu wissen, dass sie ihn bekommen würde, noch bevor sie das selbst wusste.
»Fahren Sie zur Hölle, Matisak«, hatte sie ihm gesagt.
»Seien Sie keine Närrin, Jessica.« Seine stahlblauen Augen hatten sie für einen Moment in ihren Bann gezogen. Sie wusste, was er sich in seiner Vorstellung ausmalte, den Moment, als er die völlige Kontrolle über sie hatte. Sein Grinsen entblößte sein gelblich verfärbtes Zahnfleisch.
Sie war aufgestanden und wollte gehen.
»Ich kann Ihnen Tracy Torres geben … Ana Pelligrino … eine Liste weiterer Opfer«, lockte er.
»Ich komme nicht wieder.«
»Untersuchen Sie ein Gebiet, das Old Downs Glen genannt wird, südwestlich von Lexington, Kentucky, ein großes Feld mit Bäumen drumherum. Daneben ist eine gewundene, unbefestigte Straße, an einem Ende steht ein Farmhaus und am anderen Ende liegt ein See. Baggern Sie den See aus.« Er redete leise, selbstgefällig, so wie er ihr ins Ohr geflüstert hatte, dass er ihr das gesamte Blut abzapfen wolle, in der Nacht, als er Otto Boutine, ihren Mentor und Liebhaber, getötet hatte.
Manchmal förderten seine Informationen eine Leiche zutage. Manchmal nicht. Sie hatte das Aufnahmegerät abgeschaltet. Aber jemand, der die Monitore beobachtete, hatte vielleicht die »neueste Offenbarung von Matisak« gehört. Sie wollte durch die Tür treten und nicht wiederkommen, aber sie konnte nicht. Als Matisak letztes Jahr vor Gericht gestanden hatte, wurden ihm 24 blutentleerte Opfer zur Last gelegt, doch inzwischen war die Rede von mehr als doppelt so vielen.
Das FBI brachte Fälle gern zum Abschluss, am besten mit einem ordentlichen Bericht, der den Fall einer vermissten Person beendete. Das war tolle PR und machte sich gut in der Presse, wenn die Familie eines Opfers endlich die sterblichen Überreste zurückbekam und sie in geweihtem Boden zur Ruhe betten konnte. Es schien durchaus sinnvoll, einen Deal mit dem Teufel einzugehen, wenn man dafür solche Resultate vorweisen konnte, nur drehte sich ihr regelmäßig der Magen um, sobald sie Matisak auch nur ansah.
Schließlich hatte sie seinen Bluff auf die Probe gestellt und war ohne ein weiteres Wort durch die Tür gegangen, was ihn in Rage versetzt hatte. Sie ließ in ihrem Bericht aus, dass er um Informationen über den Fall der Klaue gebeten hatte. Soweit es sie betraf, und wenn man bedachte, was Dr. Arnold ihr über sein Verhalten und seine Bemerkungen bei Simsʼ Selbstmord berichtet hatte, hatte Matisak viel zu viel Spaß daran, seine Spielchen zu spielen, obwohl er eigentlich für seine Verbrechen die Gaskammer oder den elektrischen Stuhl verdient hätte. In Illinois wurde allerdings nicht die Todesstrafe angewandt.
Sims war im Vergleich zu Matisak eine bedauernswerte Figur, auch wenn seine Verbrechen in den Augen der Öffentlichkeit noch grausiger und abscheulicher waren als die des Vampirs. Kannibalen töteten schnell, Vampire langsam und mit Bedacht. Matisak zapfte seinen Opfern langsam das Blut ab, auf grausame Art und Weise mithilfe einer Art Aderlassbesteck. Dieser Aderlass wurde beim FBI eine Folter Stufe 9 genannt. Sims war ein Fleischfresser, ein Kannibale, und das war im Sprachgebrauch des FBI eine Folter Stufe 6 oder »Tort 6«. Nachdem er seine Opfer bewegungsunfähig gemacht hatte, tat er unaussprechliche Dinge mit ihren Körpern, die sich der Durchschnittsbürger nicht einmal vorstellen wollte, ihr Leiden war allerdings relativ schnell vorbei. Die Bewertung der Schwere einer Folter durch das FBI hing davon ab, wie viele Stunden ein Opfer tatsächlich leiden musste.
Es gab nicht viele Bluttrinker oder Kannibalen in Haft, also wurde jeder – von jemandem, der nur gelegentlich kannibalistisch mordete, bis zu einem Vollzeit-Killer wie Jeffrey Dahmer – als wichtige Informationsquelle gesehen, um die dunkelsten und abartigsten menschlichen Begierden zu erforschen. Aus psychiatrischer Sicht waren diese seltenen Exemplare unbezahlbar. Also behandelten Leute wie Arnold und OʼRourke sie wie Filmstars.
Aber was hatten sie von Sims gelernt, dessen eigener Charakter so schwach war, dass er von einem schattenhaften zweiten Selbst dominiert wurde, ein eingebildetes Double, von dem er behauptete, es sei eine Frau namens Stainlype, die der Kannibale war, und nicht er? Jessica fragte sich, wer von beiden, Sims oder Stainlype, im Jenseits für seine Sünden bezahlen würde. Wie bei Sims hatten ihre Gespräche mit Matisak einige bisher nicht aufzufindende Leichen lokalisiert und das war der einzige Grund, wieso sie in das Gefängnis für geisteskranke Straftäter zurückgekehrt war.
Als sie langsam in der friedlichen und ruhigen Stimmung wegdöste, die im Flugzeug herrschte, fühlte sich Jessica eine Zeit lang sicher und unantastbar, bis sie Matisaks Reibeisenstimme hörte: »Die Klaue … die Klaue … die Klaue …«
Jessica schreckte auf und hörte, wie Dorrington die Stewardess anschnauzte, die ihm Hühnchen statt eines Clubsandwichs gebracht hatte. Er sagte immer wieder: »Das Clubsandwich … das Clubsandwich …«
»Was kann ich Ihnen bringen, Miss?«, fragte die Flugbegleiterin.
»Nur einen Kaffee, schwarz, bitte«, rief sie über das Dröhnen des Flugzeugs hinweg. Sobald sie ihren Kaffee sicher abgestellt hatte, vertiefte sie sich wieder in die Fallakte in ihrem Schoß.
Die New Yorker Polizei stand ratlos dem Fall eines sadistischen Frauenhassers gegenüber, der in einem großen Gebiet Frauen attackierte, verstümmelte und ihr Fleisch verzehrte. Die Vorgehensweise der sogenannten Klaue war so furchtbar, dass es über alles hinausging, was Jessica innerhalb oder außerhalb eines Autopsiesaals je gesehen hatte.
Ein Captain des NYPD namens Alan Rychman hatte mehrere Anfragen durch das VICAP geschickt – das Violent Criminal Apprehension Program im National Crime Information Center in Washington, D.C. Rychman suchte landesweit nach Hilfe und nutzte dazu das Computersystem des FBI, in dem alle Informationen über Gewaltverbrechen gesammelt wurden, um nach bestimmten Mustern und Ähnlichkeiten zu fahnden. Das NYPD hatte bisher erfolglos versucht, irgendwelche Hinweise auf die Identität beziehungsweise Identitäten des Killers zu finden. Den Opfern waren so viele Verletzungen zugefügt worden, dass die Möglichkeit in Betracht gezogen werden musste, die Klaue könnte mehr als eine Person sein. Zusammen mit Rychman bat auch der angesehene Chef-Forensiker von New York, Dr. Luther Darius, über seine Kontakte unter den Medizinern beim FBI um Unterstützung.
Jessica kannte Dariusʼ Ruf – wenn der um Hilfe bat, musste es in New York wirklich schlimm stehen. Offensichtlich waren fünf bekannte Opfer des Killers in mehreren verschiedenen Bezirken gefunden worden, was die Ermittlungen noch schwieriger machte, da verschiedene Polizeibezirke und gerichtsmedizinische Labors involviert waren. Die Morde hatten vor Kurzem aufgehört, aber alle fürchteten, dass weitere grausig verstümmelte und teilweise verzehrte Leichen auftauchen würden.
Sie fand es sehr interessant, dass der Killer schon von Anfang an Spielchen mit der Polizei gespielt und die Leichen absichtlich dort abgeladen hatte, wo sie leicht gefunden werden konnten. Offenbar wollte er, dass die Leichen gefunden wurden. Vielleicht fühlte er